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Es war zwischen neun und zehn, als wir nach Mischino kamen. Dies war ein ärmliches kleines Dorf, das ungefähr drei Werst von der Chaussee entfernt in einer ziemlich tiefen Bodensenke lag. Sechs oder sieben verräucherte, schief gesunkene, mangelhaft mit schwarz gewordenem Stroh gedeckte Bauernhäuser schauten den Vorüberfahrenden trübselig und unfreundlich an. Kein Gärtchen, kein Strauch war im Umkreis von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum stand schläfrig über einen grünen Tümpel gebeugt, welcher ›der Teich‹ genannt wurde. Ein solcher Wohnsitz konnte wahrscheinlich auf Tatjana Iwanowna keinen erfreulichen Eindruck machen. Das herrschaftliche Gebäude war ein neues, langes, schmales Holzhaus mit sechs Fenstern nebeneinander, nachlässig mit Stroh gedeckt. Der ehemalige Beamte, der das Gut jetzt besaß, hatte eben erst angefangen, die Wirtschaft einzurichten. Selbst der Hof war noch nicht umzäunt; nur auf der einen Seite stand schon ein Stück neuer Flechtzaun, von dem die trockenen Haselblätter noch nicht abgefallen waren. Bei diesem Flechtzaun stand Obnoskins Reisewagen. Für die beiden Delinquenten kamen wir völlig überraschend. Aus einem offenen Fenster war Geschrei und Weinen zu hören.

Ein barfüßiger Junge, der uns im Flur begegnete, lief Hals über Kopf davon. Gleich im ersten Zimmer saß auf einem baumwollbezogenen langen ›türkischen‹ Sofa ohne Lehne Tatjana Iwanowna, die ganz verweint aussah. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin; er war so erschrocken und verlegen, daß er einem sogar leid tun konnte. In seiner Verwirrung eilte er auf uns zu, um uns die Hände zu drücken, als ob er über unsere Ankunft erfreut wäre. Durch die ein wenig geöffnete Tür, die ins Nachbarzimmer führte, war ein Frauenkleid sichtbar: es horchte da jemand und spähte durch einen uns nicht sichtbaren Spalt. Die Wirtsleute zeigten sich nicht: anscheinend waren sie nicht im Haus; sie hatten sich wohl irgendwo versteckt.

»Da ist sie ja, die Reisende! Nun versteckt sie sich noch hinter den Händen!« rief Herr Bachtschejew, der sich hinter uns her ins Zimmer hereinwälzte.

»Bezähmen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das paßt in der Tat nicht hierher. Nur Jegor Iljitsch hat jetzt das Recht zu reden; wir andern sind hier vollständig Nebenpersonen!« bemerkte Misintschikow in scharfem Ton.

Mein Onkel warf Herrn Bachtschejew einen strengen Blick zu, und indem er tat, als bemerkte er Obnoskin gar nicht, der auf ihn zueilte, um ihm die Hand zu drücken, trat er zu Tatjana Iwanowna, die immer noch das Gesicht mit den Händen bedeckte, und sagte zu ihr in ganz mildem Ton und mit aufrichtiger Teilnahme:

»Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so sehr, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten kennenzulernen. Möchten Sie nicht mit uns nach Stepantschikowo zurückfahren? Ilja hat heute seinen Namenstag. Mama wartet ungeduldig auf Sie, und Alexandra und Nastasja haben sich gewiß schon den ganzen Morgen unter Tränen nach Ihnen gesehnt...«

Tatjana Iwanowna hob schüchtern den Kopf, sah durch die Finger meinen Onkel an und fiel ihm dann, plötzlich in Tränen ausbrechend, um den Hals.

»Ach, bringen Sie mich weg, bringen Sie mich recht schnell von hier weg!« sagte sie schluchzend. »Recht schnell, so schnell wie möglich!«

»Kaum ist sie durchgegangen, hat sie es schon mit der Angst bekommen!« flüsterte Baditschejew, indem er mir mit der Hand einen Stoß versetzte.

»Dann ist also alles erledigt«, sagte der Onkel, zu Obnoskin gewandt, den er aber kaum ansah, in trockenem Ton. »Tatjana Iwanowna, ich bitte um Ihren Arm. Wir wollen gehen!«

Hinter der Tür wurde das Rascheln eines Kleides vernehmbar; die Tür knarrte und öffnete sich etwas weiter.

»Aber wenn man die Sache von einem andern Standpunkt aus betrachtet«, bemerkte Obnoskin und sah sich dabei unruhig nach der halbgeöffneten Tür um, »so müssen Sie doch selbst sagen, Jegor Iljitsch, daß Ihr Benehmen in meinem Haus... und dann, ich begrüßte Sie, und Sie haben meinen Gruß nicht einmal erwidern mögen, Jegor Iljitsch...«

»Ihr Benehmen in meinem Hause, mein Herr, war unehrenhaft«, antwortete der Onkel und richtete einen strengen Blick auf Obnoskin; »dieses Haus hier ist aber gar nicht das Ihrige. Sie haben es gehört: Tatjana Iwanowna will keine Minute länger hierbleiben. Was wollen Sie denn nun noch? Kein Wort weiter; hören Sie: kein Wort weiter; ich bitte Sie darum! Ich wünsche sehr, alle weiteren Auseinandersetzungen zu vermeiden, und das wird auch für Sie das Vorteilhafteste sein.«

Aber nun verlor Obnoskin den Mut dermaßen, daß er ganz überraschenden Unsinn zusammenredete.

»Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch«, begann er leise, fast flüsternd; er weinte beinahe vor Beschämung und blickte alle Augenblicke nach der Tür, wahrscheinlich aus Furcht, daß er dort gehört werde; »das ist alles nicht mein Werk, sondern Mamas Werk. Ich habe es nicht aus persönlichem Interesse getan, Jegor Iljitsch, sondern ohne mir etwas dabei zu denken; natürlich habe ich es auch in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch... aber ich habe es in ehrenhafter Absicht getan, Jegor Iljitsch; ich hätte das Kapital nützlich verwendet... ich hätte die Armen damit unterstützt. Ich wollte auch das jetzige Streben nach Bildung dadurch fördern und hatte sogar die Absicht, ein Stipendium an der Universität zu stiften... Das ist der Gebrauch, den ich von meinem Reichtum machen wollte, Jegor Iljitsch; von anderen Absichten kann gar keine Rede sein, Jegor Iljitsch...«

Wir alle schämten uns auf einmal außerordentlich. Sogar Misintschikow errötete und wandte sich ab; der Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte.

»Na, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein!« sagte er endlich. »Beruhigen Sie sich, Pawel Semjonowitsch! Was ist da zu machen? Das kann jedem passieren... Wenn Sie wollen, lieber Freund, so kommen Sie mit zum Mittagessen... ich werde mich freuen, ich werde mich freuen...«

Ganz anders aber verfuhr Herr Bachtschejew.

»Ein Stipendium stiften!« schrie er zornig. »Dazu ist der gerade der Richtige! Dem ist es ja ein Vergnügen, den ersten besten, der ihm begegnet, auszuplündern... Hat keine ordentlichen Hosen und schwatzt von Stipendien! O Sie Lump, Sie Lump! Da haben Sie nun ein zartes Herz erobert! Aber wo ist denn sie, die Mutter? Hat sie sich etwa versteckt? Ich möchte darauf wetten, daß sie hier irgendwo hinter einem Bettschirm sitzt oder vor Angst unter das Bett gekrochen ist...«