22
Mit Hawkwoods Ermächtigung gelang es ihnen, die Stadt durch das Zolltor, das vom Militär bewacht wurde, zu verlassen; dann ritten sie südlich die Straße nach Walmer entlang.
Die Pferde waren müde, und obwohl sie sich etwas ausgeruht hatten, wusste Hawkwood, dass man ihnen nicht mehr viel zumuten durfte. Deshalb war er erleichtert, als Lasseur nach etwa zwei Meilen nach Osten abbog und den Weg zum Meer einschlug. Auf einem Wegweiser, der windschief aus der Hecke ragte, stand Kingsdown.
Sie ritten im Schritt durch das schlafende Dorf bis zum Strand am Fuße eines hohen grauen Felsens. Dahinter sah Hawkwood den unregelmäßigen Umriss eines noch höheren Felsens und dahinter einen weiteren, und er wusste, das war der Anfang der Kette weißer Klippen, die sich an der Küste entlang bis nach Dover hinzog.
Ungefähr dreihundert Yards vom Ufer konnte man mit etwas Mühe den Umriss eines dunklen Dreimasters ausmachen, der hier vor Anker lag. Weder auf Deck noch im Schiffsrumpf waren Lichter zu sehen. Wenn sie nicht gewusst hätten, dass das Schiff hier liegen musste, dann hätten sie lange gebraucht, bis sie es bemerkt hätten.
»Ich brauche eine Pistole«, sagte Lasseur.
Jago griff in seine Satteltasche. »Sie ist geladen«, warnte er.
Lasseur holte tief Luft, hielt die Pistole hoch und drückte ab. Das Pulver blitzte auf und der Knall hallte von den Klippen wider. Micah beruhigte die Pferde. Lasseur gab Jago die Pistole zurück, der sie in seinen Gürtel steckte.
Das Wasser sah dunkel und kalt und tief aus. Hawkwood dachte an die Nacht, in der sie Warden im Boot verlassen hatten. Weit draußen im Kanal, hinter dem dunklen Schiff, sah er die Lichter zweier weiterer Schiffe, und er fragte sich, ob eines davon wohl Morgans Sea Witch war.
Tom Gadd hatte für den Privateer Botendienste geleistet. Gleich am ersten Tag, als sie wieder auf der Farm waren und Jess Flynn sich um den fiebernden Hawkwood gekümmert hatte, war Gadd für ihn zu dem Agenten in Ramsgate gefahren. Es war derselbe Mann, den Lasseur zu erreichen versuchte, als er seinen ersten Fluchtversuch machte, noch ehe er ins Gefängnis von Maidstone gekommen war.
Der Agent hatte die Nachricht per Brieftaube an Lasseurs Besatzung in Dünkirchen weitergeschickt, und darin stand, dass ihr Kapitän frei war und auf sie wartete. Sie sollten mit der Scorpion an die Küste von Kent kommen und dort vor Kingsdown jeweils zwei Stunden vor bis zwei Stunden nach Mitternacht vor Anker gehen. Dies sollten sie nach Erhalt der Nachricht fünf Nächte lang machen und auf Lasseurs Signal warten.
»Es kommt darauf an«, hatte Lasseur gesagt, »ob meine Leute die Nachricht rechtzeitig bekommen haben.«
Es sah ganz danach aus.
Hawkwood sah zum Schiff hinüber. Ein kleines Boot löste sich vom Schiffsrumpf und hielt auf sie zu. Langsam kam es näher. Hawkwood sah die gekrümmten Rücken der Ruderer und hörte das Plätschern der Riemen.
Lasseur wurde plötzlich sehr lebhaft. Er trat dicht ans Wasser.
Durch die Dunkelheit kam ein leiser Ruf. »Scorpion!«
Lasseur watete ins Wasser. »C’est moi!«
»Noch mehr verdammte Froschfresser!«, hörte Hawkwood Jago leise murmeln.
Das Ruderboot kam immer näher und lief schließlich am Strand auf. Der dunkelhaarige Mann, der heraussprang, war etwa so alt wie Micah und von ganz ähnlicher Statur. Er trug keine Uniform, sondern war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, genau wie der Ruderer, der im Heck des Bootes gesessen hatte. Mit strahlenden Augen und einem breiten Lächeln ergriff der dunkelhaarige Mann Lasseurs Arme und hielt ihn fest.
Lasseur grinste. »Das ist mein Erster Offizier, Leutnant Marc Delon.«
Der junge Leutnant nickte zum Gruß, doch er konnte seine Neugier über die drei Fremden nicht verhehlen. Hawkwood nahm an, dass er sie wahrscheinlich alle für geflohene Gefangene hielt.
Lasseur nickte dem Mann im Heck zu. »Henri, comment va cela?«
Der Ruderer brummte eine kaum hörbare Antwort.
Lasseur schlug seinem Leutnant auf die Schulter. »D’accord, allons!«
Delon kletterte wieder ins Boot.
»Kommt, meine Freunde!«, feuerte Lasseur sie an. »Beeilt euch!«
»Hast du noch was in deinen Satteltaschen?«, fragte Hawkwood Jago.
»Nichts, war ich vermissen würde.«
Lasseur kletterte ins Boot. Hawkwood und Jago folgten ihm. Micah blieb zurück. Der vor Freude strahlende Leutnant nahm die Riemen, und das Boot stieß langsam vom Ufer ab.
Micah blieb reglos am Rande des Wassers stehen. Jago hob die Hand. Micah nickte, dann drehte er sich um und ging den steinigen Strand hinauf zu den Pferden. Er sah sich nicht um.
Hawkwood wechselte einen Blick mit Lasseur. »Weiß Jess davon?«
»Nein«, sagte Lasseur niedergeschlagen. Er sah über den Bug aufs offene Meer hinaus und verfiel in bedrücktes Schweigen.
Lasseurs Mannschaft machte kein Geheimnis aus ihrer Freude über seine Rückkehr, sie hatten sich an der Reling entlang aufgestellt, um ihn willkommen zu heißen. Doch nachdem sie erstmal an Bord der Scorpion waren, verlor Lasseur keine Zeit und gab seinem Leutnant Befehl, so schnell wie möglich loszusegeln.
Die Männer machten sich an die Arbeit. Hawkwood sah über die Reling zum Festland. Er sah die Kette der Kreidefelsen hinter sich, noch schienen sie so dicht, dass man glaubte, sie berühren zu können. Von Micah und den Pferden war nichts mehr zu sehen. Er sah über den Bug zum Horizont, doch hier hatte die Dunkelheit alles verschluckt. Die Lichter der Schiffe, die er vorhin gesehen hatte, waren verschwunden.
Als der Anker gelichtet war, drehte sich das Schiff. Die Mannschaft setzte Segel und Lasseur ging mit den Männern unter Deck. Im Kartenraum schaukelte eine Laterne am Deckenbalken, und Lasseur zog eine Karte aus einem Schrank und entrollte sie auf einem Tisch.
»Morgan wird hier hinfahren -«, sagte er und zeigte mit einem Zirkel auf das Ziel. »Gravelines.«
Hawkwood sah auf die Linien und Schnörkel unter den Zirkelspitzen. Der Name stand auf halbem Wege zwischen Dünkirchen und Calais an der Nordküste.
»Warum dahin?«
»Man nennt es la ville des Smoglers. Bonaparte hat diesen Hafen als Anlaufpunkt für Schmuggler und ihre Waren bestimmt. Man hat dort eine besonders geschützte Anlage gebaut, mit Lagerhäusern, Speichern und Unterkünften. Das ganze Areal wird von Kanonen geschützt. Es gibt sogar ein englisches Viertel. Es heißt, dass sich ständig bis zu dreihundert englische Schmuggler hier aufhalten. Der Kaiser hat verschiedenen Händlern Sonderlizenzen erteilt, um Schmuggelware zu importieren und exportieren. Alles, was an Schmuggelware an eurer Südküste ankommt, ist hier verladen worden.«
Lasseur klopfte mit dem Fingerknöchel auf den Kartentisch. »Und hier setzen die Guinea Boats ihre Ladungen ab. Der Handel wird von der Familie Rothschild kontrolliert. Der Kopf der Operation ist Nathan Rothschild, der Bankier; der sitzt in London. Sein Bruder James kümmert sich um den Weitertransport des Goldes von Gravelines nach Paris, wo es wieder in englische Banknoten umgetauscht wird. Und dabei machen die Schmuggler und ihre Helfer ihr Geschäft. Morgan hält auf Gravelines zu, da gehe ich jede Wette ein.«
»Und du denkst, dass wir ihn immer noch abfangen können?«, fragte Hawkwood.
»Wenn es ein Schiff kann, dann dieses.«
»In Deal erwähntest du den Wind. Was hast du damit gemeint?«
»Der Wind kommt von Osten.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Hawkwood.
»Ein Grund, warum Morgan den Überfall für diese Zeit angesetzt hatte, war, dass er die Flut nutzen wollte. Kutter haben einen ziemlichen Tiefgang und eignen sich nicht für Arbeiten dicht vor der Küste, also brauchte er Hochwasser, um das Gold zu verladen und fortzukommen.