»Um jedoch nach Gravelines zu kommen, muss er erst nach Süden fahren, um Les Sables zu umgehen - was Ihr in England die Goodwin Sands nennt.« Lasseur klopfte auf die Karte. »Und bei diesem Teil seiner Fahrt hatte er die Gezeiten gegen sich; der Wind wird ihn auf die Küste zugetrieben haben und er wird nur langsam vorangekommen sein. Doch wenn er erst an den Downs vorbei ist und das südliche Ende der Sands erreicht hat, ist der Wasserstand günstiger für ihn, aber solange wir diese Windrichtung haben, wird er nicht so schnell vorwärtskommen. Selbst bei mäßigem Wind wird er dauernd kreuzen müssen. Kutter sind schnell, deshalb benutzen Schmuggler sie gern. Unter normalen Verhältnissen könnte ein Schoner wahrscheinlich mit einem Kutter nicht mithalten, aber bei diesem Gegenwind wird er noch nicht sehr weit gekommen sein. Die Scorpion wird schneller sein, denn sie kann sich dem Wind besser anpassen. Ich denke, wir können ihn noch abfangen.«
»Ich dachte immer, Schiffe können nicht gegen den Wind segeln«, sagte Hawkwood.
»Die Scorpion kann es«, sagte Lasseur zuversichtlich.
»Wie?«
»Sie hat eine besondere Takelage. Die habe ich selbst entworfen. Sie basiert auf der Takelage der Xebecs, das waren die Schiffe der Berberpiraten. Die haben europäische Schiffe ausgeraubt und sind dadurch entkommen, dass sie in den Wind segelten und keiner konnte sie einholen. Ich habe mir das System gut angesehen, als ich im Mittelmeer war. Die Takelage der Scorpion ist so eingerichtet, dass wir dieselbe Technik benutzen können. Hast du die Rahtakelage am Großmast gesehen? Diese Segel sorgen für den Schub, um vorwärtszukommen. Die Segel der Xebecs waren dreieckig und wurden zwischen Bugspriet und Fockmast gesetzt. Ich benutze dasselbe Prinzip, nur dass ich statt eines großen Segels zwei habe, zwischen Fock- und Großmast. Zusammen mit den Klüvern haben sie die Wirkung, das Schiff anzuheben; sobald sie gesetzt sind, wirst du sehen, dass sie flacher sind als normal. Dadurch kann die Scorpion in den Wind segeln und wesentlich leichter über die Wellen gleiten.«
Hawkwood versuchte, ein intelligentes Gesicht zu machen, als hätte er verstanden, wovon Lasseur redete. Er war erleichtert, dass Jago auch nicht klüger schien.
»Was hast du der Mannschaft gesagt?«
»Dass wir den Feind verfolgen. Das tun wir ja auch.«
»Werden sie sich nicht fragen, was Nathaniel und ich hier machen?«
»Wir sind schon sehr lange zusammen. Sie werden an dem, was ich mache, keine Zweifel haben.«
Man hörte ein diskretes Hüsteln. Es war Lasseurs Leutnant, der in der Tür stand.
Lasseur wandte sich um und legte den Zirkel auf die Karte. »Entschuldigung, meine Herren«, sagte er entschlossen. »Ich sollte jetzt an Deck sein. Aber erst zeige ich euch noch meine Kajüte.«
Lasseur führte sie durch das Schiff nach achtern. Der Schoner war klein, fand Hawkwood, verglichen mit der Rapacious war er eine Nussschale. Es war seltsam, denn obwohl er auch hier den Kopf unter den Balken einziehen musste, war die Deckenhöhe doch wesentlich größer, was wohl daran lag, dass es nur ein unteres Wohndeck gab. Mehrere Mitglieder der Mannschaft, die Lasseur oben bereits begrüßt hatten, saßen in der Messe an den Tischen. Ihre Gesichter strahlten, als Lasseur eintrat, und er grüßte im Weitergehen jeden von ihnen mit Namen. Es war nicht zu übersehen, wie beschwingt sein Gang plötzlich war, seit er sich wieder an Bord seines Schiffes befand.
Die Kajüte am Heck war winzig, sie hatte zwei schmale Kojen und unter dem Fenster eine Bank mit einem Tisch davor.
»Macht es euch bequem«, sagte Lasseur. »Ich sage Raoul gleich, dass er euch etwas aus der Galley bringen soll. Es wird später kalt werden an Deck, ich werde euch auch etwas Warmes zum Anziehen besorgen.«
Als Lasseur gegangen war, setzte Jago sich auf die Bank und fuhr mit der Hand über sein kurzes Haar. Er sah Hawkwood an und seufzte.
»Erinnere mich mal daran, warum wir hier sind.«
Hawkwood warf sich in eine der Kojen.
»Weil ich verdammt sein will, wenn ich Morgan das durchgehen lasse. Dies ist meine einzige Chance, ihn noch zu kriegen.«
»Umgebracht zu werden, meinst du wohl! Morgan ist weg. Kannst du dir nicht einfach eingestehen, dass er dir entwischt ist? Man kann doch nicht immer gewinnen.«
»Ich habe ihn aber noch nicht verloren«, sagte Hawkwood.
»Nein, ganz recht, und darum segeln wir jetzt mit’nem Froschfresser von einem Privateer nach Frankreich. Könntest du nicht einfach das kleinere Übel wählen, nämlich den Musjöh an die Obrigkeit ausliefern und dann mit Micah und mir zurück nach London reisen?«
»Ich kann ihn nicht ausliefern, Nathaniel. Denn damit würde ich ihn wieder auf die Hulks schicken. Das würde ich niemandem antun. Würdest du auch nicht, wenn du erlebt hättest, wie es dort zugeht. Er hat mir das Leben gerettet, ich stehe in seiner Schuld. Ich denke, wenn er so weit gekommen ist, sollte man ihm eine Chance geben. Und außerdem glaube ich, dass ich gar keine andere Wahl habe.«
»Du hast immer die Wahl gehabt!«
»Es ist nicht so einfach.«
»Von meinem Standpunkt aus schon«, sagte Jago kurz. »Hast du dich schon mal gefragt, warum Lasseur das hier macht? Wie ich es sehe, ist es doch in seinem Interesse, dass Morgan ungeschoren über den Kanal kommt. Der Kaiser bekommt sein Gold und Lasseur kommt nach Hause. Wir sind doch bloß verdammter Ballast hier! Du weißt doch hoffentlich, dass du das Gold nicht zurückkriegst?«
»Mir ist das Gold scheißegal! Ich will Morgan. Der Schweinehund hat zwei Navyoffiziere auf dem Gewissen, außerdem einen Zollbeamten und mindestens zwei britische Soldaten. Ganz zu schweigen von dem Ärger, den er mir bereitet hat.«
»Und die französischen Gefangenen?«
»Die überlasse ich Lasseurs Gewissen.«
»Ach, hat er eins? Was sollte ihn davon abhalten, uns den französischen Behörden auszuliefern? Vielleicht hast du einfach einen englischen Hulk gegen einen französischen eingetauscht. Wenn sie uns nicht vorher schon als Spione erschießen.«
»Das wird er nicht tun.«
»Wer sagt das?«
»Er sagte es. Er gab mir sein Wort.«
»Und du glaubst ihm?«
»Ja. Außerdem ist es nicht in seinem Interesse, mich auszuliefern.« Hawkwood lächelte. »Ich schulde ihm immer noch viertausend Francs.«
»Na, dann wird es wohl seine Richtigkeit haben. Und ich dachte schon, er ist nur von dem Gedanken an die vier Tonnen Gold angetrieben, die Boneys Schatztruhen wieder füllen werden. Wie naiv kann man sein? Aber ich sehe noch immer nicht, warum er so drauf versessen ist, Morgan abzufangen, ehe er Frankreich erreicht. Warum wartet er nicht, bis Morgan dort ist und denunziert dieses Arschloch erst dann?«
»Weil Morgan, sobald er gelandet ist, in der englischen Exklave verschwinden würde. Das sind alles seine Freunde dort. Außerdem besteht eine gute Chance, dass die Franzosen ihn schützen würden. Schließlich liefert er Bonaparte zwölf Millionen Francs, da könnte es sich doch lohnen, die Hand über ihn zu halten. Vielleicht denken sie, wenn er es einmal schafft, dann schafft er es immer wieder.«
»Er hat acht Franzosen umgebracht. Willst du mir weismachen, das würden sie ihm nicht übelnehmen?«
»Morgan kommt zuerst nach Gravelines, und seine Geschichte wird sein, dass sie beim Ausüben ihrer patriotischen Pflicht gefallen sind - wenn er sie überhaupt erwähnt. Bis Lasseur Zeit hat, seine Version zu erzählen, ist Morgan bereits Schoßhündchen beim Kaiser. Für zwölf Millionen Francs kann man sich viel erkaufen. Und außerdem gibt es keine Beweise dafür, dass er sie umgebracht hat. Wer weiß denn genau, dass sie nicht von unseren Leuten erschossen wurden? Es würde Lasseurs Wort gegen Morgans sein, und Lasseur war nicht dabei.«
»Also plant Lasseur, Morgan auf hoher See einzuholen?«