»Mir fällt auf, dass Sie Ihr rechtes Bein schonen«, sagte Lasseur. »Sind Sie verwundet worden?«
Fouchet lächelte. »Musketenkugel, knapp unter dem Knie.« Er klopfte leicht auf das Gelenk. »Bei Kälte tut es höllisch weh, und feuchtes Wetter ist auch nicht besonders gut.«
Der Lehrer wandte sich an Hawkwood. »Und Sie, Captain Hooper, was ist mit Ihnen passiert? Wie sind Sie in Gefangenschaft geraten?«
»Die anderen waren in der Überzahl«, sagte Hawkwood.
Fouchet lachte. »Wenn ich mich recht erinnere, sagte Murat, es sei bei Ciudad Rodrigo gewesen?«
Hawkwood nickte.
»Das war weit von der Heimat. Was macht ein Amerikaner nur dort?«
Es war die Frage, die Hawkwood erwartet hatte und die er mit größter Vorsicht beantworten musste.
»Hauptsächlich britische Soldaten umlegen, überwiegend Offiziere.«
»Warum?«
»Ihr Kaiser hat mich dafür bezahlt.«
Fouchet lächelte. »Ich meine, warum ausgerechnet Sie?«
»Ich bin Scharfschütze: Erstes Schützenregiment der Vereinigten Staaten. Ich dachte, man könnte meine Unterstützung gebrauchen.«
»Frecher Hund«, sagte Charbonneau. »Wie kommen Sie darauf, dass Frankreich Ihre Hilfe braucht?«
Millet verdrehte die Augen. »Dann sieh dich doch um, du Idiot.«
Erfinden Sie sich eine Biografie, die auf Ihren Fähigkeiten basiert, hatte James Read ihm geraten, also war es logisch gewesen, sich als Offizier des Schützenregiments auszugeben. Es war das amerikanische Äquivalent zu Hawkwoods früherem Regiment, dem Schützencorps, und arbeitete nach denselben Methoden wie sein britisches Gegenstück, indem es die Taktiken der leichten Infanterie und, im Falle der Amerikaner, auch die der indianischen Eingeborenen benutzte, um die Feinde zu stören und zu schikanieren. Sie waren überall als Erste da, und sie waren die Letzten, die wieder abzogen.
»Ich habe gehört, es soll ein schreckliches Gemetzel gewesen sein«, sagte Millet.
Fouchet runzelte die Stirn. »Ich meine gelesen zu haben, dass die Belagerung zwei Wochen dauerte.«
»Zwölf Tage«, sagte Hawkwood. »Wir hätten genauso gut versuchen können, Ebbe und Flut aufzuhalten. Wie meinen Sie das, Sie haben es gelesen?«
»Es stand in den Zeitungen. Sie sind hier zwar verboten, aber wir schmuggeln sie rein. Kostet ein Vermögen. Einige von uns können Englisch, aber meist übersetzt Murat für uns. Natürlich glauben wir nicht alles, was darin steht. Sie wurden auch verwundet?« Der Lehrer deutete auf Hawkwoods Narben.
»Einer der Scharfschützen erwischte mich mit dem Bajonett.«
»Sie hatten Glück. Das hätte ins Auge gehen können.«
»Er war etwas verärgert.« Hawkwood zuckte die Schultern. »Wir hatten viele seiner Kameraden umgebracht. Unsere Kanone hatte sie zerfetzt. Das hat die anderen aber nicht abgehalten, uns anzugreifen.«
»Und was ist mit dem Scharfschützen passiert?«
»Ich brachte ihn um«, sagte Hawkwood. »Er ist tot, ich blieb am Leben. Wir ergaben uns. Die Briten gewannen.«
Hawkwoods erdachte Geschichte wich gar nicht so stark von dem ab, was wirklich geschehen war. Er hatte die Depeschen gelesen. Die Schützen waren mitten im Geschehen gewesen und deckten mit ihrem Feuer die Truppen, die die Stadtmauern gestürmt hatten. Die Lücke war fast hundert Fuß breit gewesen, eine riesige Angriffsfläche für die französischen Kanoniere, die die Angreifenden mit einem Hagel von Splittermunition beschossen. Erst als die Kanonen vernichtet waren und ein französisches Munitionsdepot in die Luft geflogen war, konnten die Briten die Stadt schließlich einnehmen. So viel hatte in den Zeitungen gestanden. Das Nachspiel jedoch stand nur in den Depeschen, in denen geschildert wurde, wie die britischen Soldaten, fassungslos über das Gemetzel an so vielen ihrer Kameraden, sich betrunken hatten und Amok gelaufen waren. Die Offiziere hatten ihre eigenen Männer mit ihren Säbeln in Schach halten müssen, um ein Massaker zu verhindern. Um die Schmach noch größer zu machen, hatte Wellington zwei seiner besten Generäle verloren: Mackinnon von der dritten Division und Bob Crawford von der Leichten Brigade, unter dem Hawkwood bei einer Reihe von Einsätzen gedient hatte.
»Schweinehunde«, murmelte Millet. »Verdammte Arschlöcher!«
Die Männer am Tisch verfielen in düsteres Schweigen.
Charbonneau unterbrach die Stille. »Und Sie?«, fragte er Lasseur.
Lasseur begann mit einer humorvollen Schilderung seiner Gefangennahme und Haft. Es dauerte nicht lange, bis seine Zuhörer wieder lachten, und damit war die Essenszeit auch fast um. Die Gruppen lösten sich auf, und die Gefangenen holten sich ihre Hängematten vom Vordeck, um sie nach unten zu ihren Schlafplätzen zu bringen.
Der Junge hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und war am Tisch eingeschlafen.
»Und was ist mit ihm?«, fragte Fouchet, als Millet und Charbonneau gegangen waren, um ihr Bettzeug zu holen.
Lasseur schüttelte den Kopf. »Bisher hat er nicht viel gesagt. Ich vermute, er ist vom Rest seiner Mannschaft getrennt worden. Ich weiß nur seinen Namen.«
Fouchet nickte verständnisvoll. »Ich denke, er wird schon auftauen, wenn er mit Jungens in seinem Alter zusammen ist. Ich werde mit den anderen sprechen, vielleicht findet er da Anschluss. Inzwischen wäre es gut, wenn Sie ihn im Auge behalten würden.«
Im Ton des Lehrers hatte eine deutliche Warnung gelegen. Lasseur, der sich gerade vom Tisch erheben wollte, blieb auf halbem Weg stehen. »Das klingt nicht gut. Gibt es da etwas, was wir wissen sollten?«
»Der Junge ist klein für sein Alter, und meiner Ansicht nach sehr unschuldig und naiv. Er ist in der Fremde und deshalb doppelt gefährdet. Es dürfte Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass es hier an Bord Männer gibt, die das ausnützen könnten.«
Lasseur setzte sich wieder. »Für wie wahrscheinlich halten Sie das?«
Fouchet lächelte traurig. »Mein Freund, auf diesem Schiff befinden sich mehr als neunhundert Männer. Und mehr als achthundert davon fühlen sich durch ihre Untätigkeit genauso eingesperrt wie durch diese Holzwände. Ich nehme an, Sie wissen die Antwort selbst.« Der Lehrer nahm seine Bücher und erhob sich schwerfällig.
Hawkwood sah Lasseur an und wusste, dass dieser jetzt wieder an den Mann mit dem schütteren Haar dachte, mit dem er auf dem Geschützdeck gesprochen hatte. Lasseur sah den schlafenden Jungen an. Sein Gesicht war wie versteinert. »Ich werde daran denken«, sagte er.
Es war nicht das erste Mal, dass Hawkwood die Enge einer Hängematte erlebte. Es war eine regelrechte Kunst, in diese Schlinge zu klettern, aber es war wie mit vielen Künsten, wenn man sie erst beherrschte, verlernte man sie nie wieder. Als Soldat war er unbequeme Nachtlager gewohnt, sei es in der Scheune, im Gebüsch oder gar auf dem Schlachtfeld. Auf dem Marsch nahm man sich Schlaf und Nahrung, wann und wo es möglich war, denn man wusste nie, wann sich die nächste Gelegenheit dazu bieten würde. Verglichen mit vielen anderen Orten, wo er sein müdes Haupt schon hingelegt hatte, war eine Hängematte der Gipfel der Bequemlichkeit.
Er lag da und horchte auf die Schlafgeräusche der vierhundert Menschen, mit denen er das Deck teilte. Die Töne waren sehr verschieden, je nach Ursprung und Lautstärke, von den langgezogenen Klagen der Verzweifelten, dem Keuchen der Schwindsüchtigen und dem Stöhnen derer, die die Ruhr hatten, bis zum leisen Weinen der Einsamen und Heimwehkranken. Zusammen mit dem Durcheinander aus Flüchen, Räuspern, Spucken, dem Furzen, Husten und den sonstigen Geräuschen, die Männer so von sich geben, bildete es eine disharmonische Geräusch - kulisse für die körperlichen Qualen der Männer, die gegen ihren Willen in diesem engen Massenquartier eingepfercht waren.