»Da würde Leutnant Murat Ihnen wahrscheinlich zustimmen«, erwiderte Hawkwood.
»Ah, ja, unser tüchtiger Dolmetscher. Tja, das ist ein Mann, den man sich warmhalten sollte.«
»Trauen Sie ihm?«
»Ungefähr so weit, wie ich spucken kann.«
»Immerhin so weit?«, sagte Hawkwood.
Lasseur lachte.
Hawkwoods Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch eine der kleinen Gruppen, die Teile der umlaufenden Bank an den Fensteröffnungen auf Steuerbord belegt hatten. Es war der Lehrer Fouchet mit seiner Vormittagsklasse. Seine Schüler - insgesamt ein halbes Dutzend - saßen ihm zu Füßen auf dem Boden. Der Junge Lucien war auch darunter. Es sah aus, als sei er der Jüngste. Der Älteste war ungefähr vierzehn. Fouchet begegnete Hawkwoods Blick und grüßte mit einem Lächeln zu ihm hinüber. Seine Schüler sahen nicht auf.
Auf der Rapacious befanden sich etwa vierzig Jungen, hatte Fouchet ihm gesagt, ihr Alter lag zwischen zehn und sechzehn. Das war nichts Außergewöhnliches. Auf Fouchets letztem Schiff, der Suffolk, waren mehr als fünfzig Jugendliche gefangen gewesen, während ein weiteres schwimmendes Gefängnis vor Portsmouth, die Prothée, mehr als hundert hatte, manche nicht älter als neun Jahre. Hawkwood ging es durch den Kopf, ob es klug von der Transportbehörde war, diese Kinder zusammen mit Männern einzusperren. Aber schließlich beschäftigte die Königliche Navy ebenfalls Jungen, die nicht älter waren als diese Schüler von Fouchet und als Midshipmen oder Laufburschen für die Kanoniere fungierten, also sah man vermutlich auch nichts Außergewöhnliches darin, wenn man ein unschuldiges Kind wie Lucien Ballard dazu verurteilte, die Schrecken eines Hulks zu ertragen. Hawkwood überschlug flüchtig, dass Nelson ungefähr im selben Alter wie Lucien gewesen sein musste, als er zur See gegangen war. Er dachte auch an einige der Straßenkinder, die als Informanten für ihn arbeiteten. Auch bei ihnen war das Alter nie ein Thema gewesen. Die einzige Bedingung, die er bei ihrer Rekrutierung stellte, war, dass sie rennen konnten, sich in den Straßen auskannten und Augen und Ohren offen hielten.
»Mein Sohn ist zwölf«, sagte Lasseur leise. Der Privateer sah ebenfalls zu der Gruppe bei der Luke hinüber.
»Wo ist er?«, fragte Hawkwood.
Lasseur wandte den Blick nicht von den Schülern ab. »Bei seinen Großeltern in Gévezé. In der Nähe von Rennes. Sie haben einen Bauernhof.«
»Ihre Eltern?«
Lasseur antwortete nicht gleich. »Ich habe keine Eltern mehr. Es sind die Eltern meiner Frau. Sie ist tot.«
Hawkwood erwiderte nichts.
»Sie ist vom Pferd gestürzt. Sie war eine begeisterte Reiterin, besonders gern ritt sie ganz früh am Morgen.« Der Franzose schluckte und zum zweiten Mal sah man sein wahres Gesicht. »Ich habe meinen Sohn drei Monate nicht mehr gesehen, aber sie schreiben mir. Dass er zur Schule geht und gut lernt, und dass er sehr tierlieb ist.« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Er heißt François.« Lasseur sah ihn an. »Haben Sie Familie?«
»Nein«, sagte Hawkwood.
»Eine Freundin? Jemand, der auf Sie wartet?«
Hawkwood dachte an Maddie Teague und überlegte, ob sie sich wohl jemals in dieser Rolle gesehen hatte: die einsame Frau, die voller Sehnsucht auf ihn wartete. Irgendwie konnte er sich das schlecht vorstellen. Dazu war Maddie viel zu unabhängig. Plötzlich sah er sie neben sich liegen, ihre kastanienbraune Haarpracht auf dem Kopfkissen, die blitzenden smaragdgrünen Augen, das schelmische Lächeln um ihren Mund.
»Aha!«, sagte Lasseur verständnisvoll. »Ihr Gesicht gibt mir die Antwort. Ist sie hübsch?«
»Ja«, sagte Hawkwood. »Ja, das ist sie.«
Lasseur sah plötzlich ernst aus. »Dann würde ich sagen, wir haben beide einen Grund, hier abzuhauen, nicht wahr?«
»Solange es nicht in einem verdammten Wasserfass sein muss.«
»Es wird auch andere Wege geben«, sagte Lasseur mit Bestimmtheit. »Wir müssen sie nur finden. Fouchet sagte, einige hätten es geschafft. Vielleicht sollten wir ihn fragen, wie sie das gemacht haben.«
»Vielleicht sollten wir jemanden fragen, der weniger Skrupel hat«, sagte Hawkwood.
Lasseur grinste. »Sie meinen Leutnant Murat?«
»Genau den«, sagte Hawkwood.
Der Dolmetscher runzelte die Stirn. »Entschuldigen Sie, Captain Hooper, aber wie Sie sich vielleicht erinnern, war ich bei Ihrer Registrierung dabei. Ich hörte, Sie warten darauf, dass Ihr Hafturlaub genehmigt wird. Warum sollten Sie sich noch immer mit Fluchtgedanken tragen?«
»Der Captain will eben alle Optionen ausloten.« Lasseur verzog keine Miene. »Dagegen gibt es doch nichts einzuwenden, oder?«
Die Stirn des Dolmetschers blieb gefurcht. »Natürlich nicht, aber Sie sind doch erst einen Tag hier.«
»Na und?«, sagte Hawkwood. »Was zum Teufel hat das damit zu tun?«
»Vielleicht sollten Sie etwas mehr Geduld haben.«
»Geduld?«, sagte Lasseur. »Ich bin geduldig gewesen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Hawkwood das Verlangen, dem Dolmetscher das überlegene Lächeln vom Gesicht zu wischen. »Aber meine Geduld geht langsam zu Ende.«
»Hingegen haben Sie sich ja tatsächlich Zeit gelassen, Leutnant«, sagte Lasseur kühl. »Wie lange sind Sie schon hier? Sind es nicht zwei Jahre?« Der Privateer sah ihn mit Verachtung an. »Vielleicht war das keine so gute Idee.«
Hawkwood sah Murat an und wiegte den Kopf. »Wir dachten, Sie seien der richtige Mann, den man um Rat fragen könne. Sieht aus, als ob wir da falschlagen.« Er sah Lasseur kurz an und zuckte die Schultern. »Schade.«
»Wollen Sie wissen, was ich denke?«, murmelte Lasseur. »Ich glaube, der Leutnant ist etwas gleichgültig geworden, er hat es ein bisschen zu bequem hier. Wahrscheinlich hat er noch nie daran gedacht, zu fliehen. Es geht ihm doch hier viel zu gut.« Lasseur sah den Dolmetscher herausfordernd an. »So ist es doch, oder? Ich würde sogar wetten, dass Sie hier durch Ihre Dolmetscherdienste und Ihre Tauschgeschäfte eine ganze Menge mehr verdienen als damals als Navyoffizier. Sie haben sich hier ein hübsches, kleines Geschäft aufgebaut, nicht wahr? Sie wollen gar nicht weg. Habe ich Recht?«
Die Wange des Dolmetschers zuckte nervös. »Ich sagte ja nur, dass solche Sachen lange dauern können - Wochen, manchmal sogar Monate.«
»Und was ist, wenn wir nicht so lange warten wollen?«, sagte Hawkwood.
»Wir konnten nicht anders, als die Wasserlieferung vorhin zu beobachten«, sagte Lasseur. »Wir dachten, das könnte eine Möglichkeit sein.«
Nach einer Pause schüttelte der Dolmetscher kurz den Kopf. »Die Wasserfässer können Sie vergessen. Das hat mal funktioniert, aber jetzt nicht mehr. Die werden jetzt als Erstes kontrolliert.«
»Tatsächlich?«, sagte Lasseur. Er sah Hawkwood an. »Das wär’s also, was diese Idee anbelangt.«
»Ich sagte ja, es wäre zu verdammt einfach gewesen«, sagte Hawkwood. »Okay, und was ist mit den anderen Liefertransporten?«
Lasseur hatte seine Rolle wunderbar gespielt. Murat hing wie ein Fisch am Angelhaken. Seine Eitelkeit war herausgefordert worden, und er hatte nicht widerstehen können. Jetzt konnte er die Rolle des Allwissenden spielen. Wieder schüttelte er den Kopf. »Das ist auch schon versucht worden. Ich sagte Ihnen ja, die Arschlöcher kontrollieren alles. Auf diese Art kommen Sie nie weg.«
Murats Blick schweifte umher, abgelenkt von der allgemeinen Geschäftigkeit hier unten. Die drei Männer saßen an einer der Geschützöffnungen auf Backbord. Hawkwood vermutete, dass es Murats Schlafplatz war, denn der Dolmetscher hatte ihn und Lasseur hier empfangen, als gewährte er ihnen Zutritt zu seinem persönlichen Hoheitsgebiet. Überall auf dem Deck gingen die fleißigeren unter den Häftlingen ihren verschiedenen Beschäftigungen nach. Korbflechter, Briefschreiber und Stricker hockten neben Knochenschnitzern und Barbieren. Manche arbeiteten, ohne zu sprechen. Andere unterhielten sich leise. In den Pausen, die dazwischen immer wieder entstanden, konnte man das Kratzen der Federn, das Klappern der Scheren und das Schaben der Klingen auf den Knochen hören. Hawkwood fragte sich, ob es wohl Zeiten gab, wo es auf dem Schiff vollkommen ruhig war. Aber er bezweifelte es.