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Hawkwood merkte, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Jetzt atmete er tief durch.

»Was war denn das?«, sagte Lasseur, ebenfalls aufatmend. »Wer um Himmels willen waren denn die?«

»Römer«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Miststücke!«

Hawkwood und Lasseur drehten sich um. Es war Charbonneau.

»Römer?«, sagte Hawkwood, der glaubte, sich verhört zu haben.

»Abschaum«, sagte Charbonneau mit wütendem Gesicht. »Die hausen auf dem untersten Deck. Man sieht sie nicht sehr oft. Sie bleiben gern im Dunkeln. Manche von ihnen sind noch länger hier als ich. Wir nennen sie Römer, weil sie ihre Decken wie Togen tragen. Sie haben auch noch andere Namen, aber eigentlich sind es wilde Tiere. Früher waren sie in Gefängnissen an Land. Ich habe gehört, dass sie zur Bestrafung hier auf die Schiffe verlegt wurden. Und seitdem leiden wir anderen doppelt.«

»Einige von ihnen waren nackt!«, stellte Lasseur überflüssigerweise fest.

Charbonneau nickte. »Das sind die Verkommensten von allen. Sie haben alles, was sie besaßen, verspielt. Das Spielen hält sie am Leben, es ist ihnen zur Sucht geworden. Ihr Leben wird nur noch von Karten und Würfeln bestimmt. Zuerst spielen sie um Geld. Wenn das weg ist, verspielen sie ihre Kleidung und ihr Bettzeug, sogar ihre Essensrationen. Manche von ihnen hungern und sparen ihre Rationen auf, um sie zu verkaufen und dann wieder spielen zu können. Wenn sie gar nichts mehr haben, klauen sie von anderen oder lungern an Deck herum und suchen Gemüseabfälle oder Fischköpfe. Sogar Ratten sind vor ihnen nicht sicher. Ab und zu schicken sie eine Gruppe auf Raubzüge, so wie die, die Sie eben gesehen haben.«

»Rafalés«, murmelte Hawkwood.

»Ja, so werden sie auch genannt«, sagte Charbonneau, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Sie haben davon gehört?«

Hawkwood nickte.

»Warum bestrafen die Wachen sie nicht?«, fragte Lasseur.

Charbonneau lachte trocken. »Wie denn? Sehen Sie sich doch um. Ist das hier nicht schon Strafe genug? Und außerdem sind dem Commander die Hände gebunden. Sie dürfen nicht ausgepeitscht werden. Körperliche Züchtigung ist verboten, es sei denn, ein britischer Soldat oder ein Mitglied der Besatzung ist verletzt worden.«

»Also hätte er den Befehl zum Schießen auch nicht gegeben?«, fragte Lasseur.

»Nein, es sei denn, es wäre zu einem richtigen Aufstand gekommen, in dem die Sicherheit seiner Leute bedroht gewesen wäre. Was unseren Commander anbetrifft, so lässt er jede Meinungsverschiedenheit unter Gefangenen auch vor deren eigenem Gericht austragen.« Charbonneau schnaufte verächtlich. »Was unter Deck vor sich geht, bleibt auch unter Deck. Wir sind ja schon so weit, dass die Wachen sich auf dem Orlopdeck gar nicht mehr sehen lassen, die da unten überlassen sie sich selbst. Und wir anderen gehen dort auch nie hin. Es ist einfach zu gefährlich. Sie haben ja gesehen, was das für Kerle sind.«

Hawkwood dachte an den Schrei, den er in der ersten Nacht gehört hatte und auf den niemand reagiert hatte. Er sah über den Park zum Quarterdeck und beobachtete, wie der Commander seinen Dreispitz abnahm, sein Gesicht der Sonne zuwandte und die Augen schloss. Der Leutnant stand ganz still und genoss die Wärme auf seiner Haut. Sein dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen.

Nach etwa einer halben Minute öffnete er die Augen und senkte den Kopf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, setzte den Dreispitz wieder auf und wollte gehen, doch dann blieb er abrupt stehen, als hätte er gemerkt, dass er in diesem privaten Moment beobachtet worden war. Er sah über seine Schulter nach hinten. Hawkwood machte keinen Versuch, wegzusehen, als der grübelnde Blick des Leutnants langsam über die Gefangenen schweifte. Als Hellards Augen den seinen begegneten, schien die Aufmerksamkeit des Commanders einen Augenblick bei ihm zu verweilen, aber dann wanderte der Blick weiter, der Moment war vorüber. Hawkwood schloss, dass er es sich nur eingebildet hatte, was auch gut war. Er wusste, dass es auffälliger war, wenn man in den Kleidern eines Zivilisten mit dem Leutnant Blickkontakt aufnahm, als in der allgemein üblichen gelben Kluft. Das war nicht klug gewesen.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Lasseur leise beim Anblick des Leutnants, der gerade von Deck ging, »haben wir es hier mit einem Mann zu tun, der viel Zeit zum Nachdenken hat.«

Das Leben an Deck nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Charbonneau war weitergegangen. Auf dem Deck unterhalb von Hawkwood und Lasseur wurde gerade Fechtunterricht erteilt. Da sie keine Klingen hatten, mussten die Schüler sich mit den Stöcken begnügen, mit denen sie soeben den Aufruhr niedergeschlagen hatten - dennoch ein riskantes Unternehmen in Anbetracht der herrschenden Enge - und der Park hallte wider vom Aneinanderschlagen der hölzernen Degen.

»Ich halte nicht sehr viel von diesem Lehrer«, sagte Lasseur verächtlich, indem er auf die Szene hinuntersah. »Der Mann hat einen hundsmiserablen Stil. Fechten Sie auch?«

»Je nach Lust und Laune«, sagte Hawkwood.

Diese unverbindliche Antwort quittierte Lasseur nur mit einem kurzen Brummen, dann sagte er: »Ein wunderbarer Sport, eine Beschäftigung für Gentlemen. Vielleicht sollten wir auch Unterricht geben? Wir könnten uns ein paar Extrarationen verdienen.«

Der trockne Ton verriet, dass Lasseur es sarkastisch gemeint hatte, deshalb antwortete Hawkwood nicht. Er sah übers Wasser. Lasseur ebenfalls. Die beiden Fregatten näherten sich der Mündung. Dicht am Wind, die Rahe gebrasst, ließ ihre Nähe auf eine freundschaftliche Rivalität der Mannschaften schließen. Beide Schiffe versuchten, dem Gegenspieler den Wind zu nehmen, damit der Verlierer sich dann mit schlaffen Segeln dahinquälen musste - eine für alle sichtbare Peinlichkeit.

Lasseur sah in die Ferne. Seine Hände umklammerten die Reling so fest, dass seine Knöchel weiß wurden, und Hawkwood wusste, dass er an sein eigenes Schiff dachte. Hawkwood versuchte sich vorzustellen, was dem Privateer durch den Kopf gehen mochte, aber er wusste, dass er dessen Gedanken nicht erraten konnte. Seine eigene Welt war so verschieden von der Welt Lasseurs, dass jeder Versuch, sich in ihn hineinzudenken, zwecklos war.

Zwar hatten sie beide Berufe, die nicht ganz ungefährlich waren, doch damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Hawkwoods Welt bestand aus düsteren Straßen, Slums und Bordellen, aus Diebsküchen voller Hehler und Strolche. In völligem Gegensatz dazu bestand Lasseurs Welt aus dem offenen Deck eines Segelschiffs in voller Fahrt. Hawkwoods Welt war eine eng begrenzte, dazu fast so dunkel und menschenunwürdig wie das Geschützdeck auf diesem Schiff, Lasseurs dagegen war eine Welt der Freiheit, des offenen Meeres und des weiten, endlosen Himmels. Lasseur musste sich auf diesem Hulk vorkommen wie ein Vogel, dessen Flügel man gestutzt hatte. Kein Wunder, dass er so fest entschlossen war, zu fliehen.

»Was meinen Sie, wie lange es tatsächlich dauern wird?«, fragte Lasseur. Er hatte Hawkwood nicht angesehen, sondern beobachtete weiter die beiden Schiffe, die sich dem offenen Meer näherten.

»Murat?«

Lasseur nickte.

»Er ist im Vorteil«, sagte Hawkwood. »Er wird uns wahrscheinlich warten lassen, selbst wenn es ihm nur darum geht, uns zu zeigen, dass wir auf ihn angewiesen sind. Es könnte schon etwas dauern.«

Lasseur sah ihn an. Sein Gesicht wirkte niedergeschlagen. »Wenn ich noch länger hier sein muss, dann drehe ich durch, das schwöre ich.«

»Wir müssen einen Tag nach dem anderen nehmen«, sagte Hawkwood. »Wir müssen es einfach so sehen. Ich sage es zwar nicht gern, aber in einer Beziehung hatte dieser Bastard Recht.«