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Mit Ausnahme der Bewohner des Orlopdecks und derer, die sich in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen hatten, beschränkte sich das Leben der übrigen Gefangenen auf die sozialen Kontakte innerhalb der kleinen Gruppe, mit der sie zum Essen eingeteilt waren. Viele von ihnen wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass jemand geflohen war, geschweige denn, wie die Flucht bewerkstelligt worden war. Sie konnten es erst durch die verstärkte Präsenz der Milizionäre und des Commanders bemerken, und durch das massive Vorgehen der Wachen, wenn sie das Deck inspizierten oder außerplanmäßig alle nach oben beorderten, um sie zu zählen. Jemand, der so gut informiert war wie Fouchet, wusste natürlich mehr, aber der Lehrer war viel zu vorsichtig, als dass er derartige Dinge mit einem Neuen besprochen hätte, besonders im Hinblick auf Murats Bemerkung, dass es hier Informanten gebe. Hawkwood hatte schon oft verdeckt gearbeitet, und obwohl Geduld nicht gerade seine Stärke war, wusste er, dass ein unauffälliges Verhalten besser war als zu viele direkte Fragen.

Ludds Verdacht, es könne sich bei den Fluchten um ein organisiertes Vorgehen handeln, war ihm von Murat bestätigt worden. Und doch hatte Hawkwood immer noch keine Ahnung, wer hinter der Sache steckte. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, ehe der Dolmetscher sich wieder an ihn wandte. Eine Woche? Zwei? Einen ganzen Monat? Oder noch länger? Bei diesem Gedanken lief es Hawkwood kalt über den Rücken. Sein Treffen mit Ludd sollte in drei Tagen stattfinden. Würde er ihm wenigstens etwas Positives berichten können? Es sah nicht so aus. Wenn man sich hier nicht in eine Ratte verwandeln und durch die Gitterstäbe schlüpfen konnte, wie Hawkwoods kleine geschwänzte Freundin neulich, dann schien der einzige andere Weg vom Schiff herunter der einer in Segeltuch gewickelten Leiche zu sein. Und selbst dann würde man nicht sehr weit kommen.

Es hatte mehrere Todesfälle gegeben, seit Hawkwood an Bord war. Die Ursache war jedes Mal das Marschfieber gewesen. Besonders im Sommer forderte es viele Opfer unter den Schwachen und Unterernährten. Es war ganz natürlich, dass auch das Alter eine Rolle spielte, obwohl in der drangvollen Enge eines Hulks weder Fieber noch Typhus noch Pocken besonders wählerisch unter ihren Opfern waren. Zwei der Toten waren in den Zwanzigern gewesen.

Es hatte keinerlei Zeremonie gegeben. In schmutzige Säcke verpackt, die man in aller Eile aus Segeltuch genäht hatte, waren die Leichen im Netz an der Winsch hängend in ein wartendes Boot hinuntergelassen worden. Dann war die traurige Fracht von einer Gruppe Gefangener, die dazu abgestellt und von vier Milizionären bewacht waren, zu einer Sandbank gerudert worden, die eine halbe Meile vom Heck entfernt lag. Hawkwood und Lasseur hatten stumm zugesehen, wie die Leichen auf das Vorland hochgetragen und in eine Grube geworfen wurden, die man weiter hinten am Strand gegraben hatte. Soweit sie sehen konnten, war bei der Beerdigung kein Wort gesprochen worden, ehe das Boot sich auf den Rückweg machte.

Was Hawkwood ebenfalls bemerkt hatte, war, dass außer ihm, Lasseur und einer Handvoll neuer Gefangener niemand von diesem Vorfall Notiz nahm. Auf der Rapacious waren Tote und ihre Entsorgung etwas ganz Alltägliches.

Es war der Nachmittag seines fünften Tages an Bord. Hawkwood lehnte an der Reling des Vordecks und gönnte sich eine Pause, nachdem er drei Stunden lang Fässer mit getrockneten Heringen und Säcke voll Zwiebeln an Bord gehievt hatte. Es war schwere Arbeit gewesen, aber sie war sinnvoll, und was noch wichtiger war, die Zeit war schneller vergangen. Jetzt schien die Sonne warm auf seinen Rücken, und das Wasser war ruhig. Wenn man Augen und Nase verschloss, konnte man sich einen Augenblick lang tausend Meilen weit weg versetzen.

Lasseur stand neben ihm. Der Privateer hatte zum vielleicht hundertsten Male die Zigarre aus seiner Jackentasche geholt und starrte sie mit derselben Konzentration an wie ein Trinker eine Flasche Rum.

Hawkwood spürte, dass jemand hinter ihm stand.

Es war der Lehrer, Fouchet, dessen fassungsloses Gesicht Hawkwood sofort verriet, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

»Sébastien?«, sagte Lasseur vorsichtig fragend.

Fouchet starrte ihn an, als wisse er nicht, wo er anfangen sollte. Man sah, dass er verzweifelt war.

»Sébastien?«, sagte Lasseur nochmals.

Das Gesicht des Lehrers war vor Schmerz verzerrt. »Sie haben sich den Jungen geschnappt.«

Hawkwood runzelte die Stirn. »Wer? Die Wachen?«

Fouchet schüttelte den Kopf. »Die Römer.«

Lasseur hielt vor Schreck die Luft an, die Zigarre hatte er vergessen. »Was? Wie ist das passiert?«

»Ich schickte ihn nach dem Unterricht in die Küche, weil es Zeit war, Samuel mit dem Abendessen zu helfen. Er kam nie dort an. Das habe ich aber erst später erfahren, als ich hinging, um unsere Rationen abzuholen.« Der Lehrer rang die Hände. »Ich hätte ihn begleiten sollen. Es ist meine Schuld.«

Es war Lasseurs Vorschlag gewesen, den Jungen als Küchenhelfer zu beschäftigen.

»Woher wissen Sie, dass die Römer ihn haben?«, fragte Hawkwood. »Könnte er nicht bei den anderen Jungen sein?«

Die Bewohner des Orlopdecks hatten sich seit ihrem Überfall im Park sehr zurückgehalten - zumindest als Gruppe. Einzeln unternahmen sie immer noch Raubzüge auf das Vordeck, wo sie nach Abfällen stöberten oder Gelegenheiten zu einem Tauschgeschäft suchten, obwohl die anderen Gefangenen ihnen meist eine Abfuhr erteilten. Die Gegenwart der Römer als Gesamtheit, die ja nur ein Deck tiefer lebten, lag jedoch wie ein dunkler Schatten über den anderen Gefangenen. Sie erinnerten Hawkwood an die Unberührbaren, die er in Indien gesehen hatte; sie wurden gehasst und gefürchtet, aber es war unmöglich, sie zu ignorieren.

Fouchet schüttelte den Kopf. »Ich habe mit Millet und Charbonneau gesprochen. Sie haben herumgefragt. Lucien wurde mit Juvert gesehen.«

»Wer ist Juvert?«, fragte Hawkwood.

»Den kenne ich«, sagte Lasseur. »Dieser verfluchte Päderast! Den habe ich doch gleich am ersten Tag dabei erwischt, wie er sich an Lucien heranmachen wollte. Ich warnte ihn, er solle den Jungen in Ruhe lassen.«

Hawkwood fiel der degeneriert aussehende Mann wieder ein, der neben dem Jungen gehockt und mit seinen schlanken Fingern dessen Rücken getätschelt hatte. »Der ist ein Römer?«

»Er ist einer von Matisses Gefolgsleuten«, sagte Fouchet.

»Matisse?«

»Ein widerwärtiger Kerl, nennt sich König der Römer. Er regiert auf der untersten Ebene. Noch dazu ein Korse, wenn Sie sich das vorstellen können«, fügte der Lehrer verächtlich hinzu.

»Dieser wilde Haufen hat einen Anführer?« Lasseur konnte seine Skepsis kaum verbergen.

»Und was ist mit den Wachen?«, fragte Hawkwood, der sich wunderte, warum Matisse sich König nannte. Die alten Römer waren doch von einem Kaiser regiert worden? Aber wenn man es recht bedachte, dann war ein korsischer Kaiser wahrscheinlich erst mal genug. Ihm fiel wieder der Kommentar ein, den er bei seiner Ankunft auf dem Schiff von den Wachen gehört hatte, als sie den Jungen sahen:

Warte mal, bis seine Majestät das sieht!

Hawkwood merkte, dass ihm übel wurde.

Fouchet schüttelte den Kopf. »Die machen gar nichts. Es ist ja nichts Verbotenes passiert. Und außerdem trauen die sich gar nicht so weit unter Deck.«

Hawkwood sah den Lehrer eindringlich an. »Es ist doch ein britisches Schiff! Wollen Sie damit sagen, dass die britische Navy auf einem ihrer eigenen Schiffe keine Macht hat?«

Fouchet breitete die Hände aus. »Die Macht hat sie schon. Aber es fehlt der Wille, besonders wenn die Römer im Spiel sind. Ehrlich gesagt, ich glaube, der Commander und seine Männer haben mehr Angst vor Matisse und seinem Hofstaat als wir.«

»Aber die Briten sind doch bewaffnet. Sie haben Musketen!«, protestierte Lasseur.