»Stimmt, aber Sie haben es ja selbst gesehen: Sie benutzen sie nicht, es sei denn, einer ihrer eigenen Männer ist bedroht.«
Entsetzt sah Lasseur den Lehrer an, der unter dem Blick noch ratloser wurde.
»Das hatten Sie also gemeint, nicht wahr?«, sagte Lasseur schließlich. »Deshalb hatten Sie mir geraten, ihn im Auge zu behalten. Matisse hat das schon mehrmals gemacht. Er hat sich auch andere Jungens geholt. Mein Gott, wo sind wir hier bloß?«
»Wenn ich Ihnen auch nur die Hälfte von allem erzählte«, sagte Fouchet leise, »würden Sie mich für verrückt erklären.«
»Und was ist mit dem Gericht, das die Gefangenen unter sich abhalten? Hat das denn keinen Einfluss?«
Fouchet schüttelte den Kopf. »Nein, nicht auf Matisse. Außerdem ist Gericht eigentlich nur ein anderes Wort für Komitee. Und wann hat ein Komitee jemals etwas Vernünftiges zuwege gebracht? Außerdem, bis die sich zusammengefunden haben, wäre es zu spät. Wir müssen jetzt etwas unternehmen!«
Du lieber Gott!, dachte Hawkwood in Panik.
»In Ordnung. Von Charbonneau wissen wir, dass alles, was unter Deck passiert, auch unter Deck bleibt. Also werden wir uns selbst darum kümmern.«
»Wie?« Fouchet hob ruckartig den Kopf und sah ihn an. »Moment mal, wollen Sie etwa dort runter gehen?«
»Es sei denn, Ihnen fällt eine andere Lösung ein«, erwiderte Hawkwood. Er wartete auf eine Antwort.
Fouchet sah ihn hilflos an.
»Dieser Matisse, können Sie uns zu ihm bringen?«, fragte Lasseur.
Fouchet wurde noch blasser. Er trat einen Schritt zurück, wobei er fast hintenübergefallen wäre.
In Lasseurs Augen flammte kurz Zorn auf, sein Gesicht wurde hart. Aber als er Fouchet anstarrte, sah er auch die Angst in dessen Gesicht.
»Wir verschwenden kostbare Zeit«, sagte Hawkwood.
»Es tut mir schrecklich leid«, flüsterte Fouchet. Sein Gesicht war schlaff. Plötzlich sah er sehr alt und sehr hinfällig aus.
Lasseur lächelte dem Lehrer beruhigend zu. »Wir kriegen ihn zurück, Sébastien, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Er wandte sich an Hawkwood. »Vielleicht sollten wir uns bewaffnen?«
Der sah Fouchet an. »Haben die dort unten Waffen?«
Fouchet nickte unglücklich. »Das ist möglich.«
»Na, wunderbar«, sagte Lasseur. »Und was machen wir jetzt?«
»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Hellard uns den Schlüssel zur Waffenkammer aushändigt«, sagte Hawkwood trocken. »Und Zeit zum Suchen haben wir auch nicht. Wir müssen halt improvisieren.« Er wandte sich an Fouchet. »Wo ist Juvert? Haben Sie ihn gesehen, seit der Junge verschwunden ist?«
In den Augen des Lehrers erschien ein Schimmer von Hoffnung. Er nickte und deutete mit dem Finger.
Claude Juvert kostete den Moment aus. Er stand auf dem Schnabeldeck im Kopf des Schiffes und pinkelte. Er genoss es, denn hier von der Pissrinne aus hatte man einen wunderbaren Blick über den Fluss, solange man nach vorn schaute und die hässlichen Hecks der anderen Gefängnisschiffe ignorierte, die vor dem Bug aufragten. Natürlich stank es hier bestialisch, aber das war unvermeidlich, obwohl das Deck gegen die Elemente offen war. Die Schiffslatrine hatte nur sechs Sitze, und bei mehr als achthundert Gefangenen an Bord kam es nur äußerst selten vor, dass nicht alle gleichzeitig besetzt waren. Jetzt saßen vier Häftlinge hinter Juvert, ihre Hosen bis auf die Knöchel herunter geschoben, und meditierten über ihr Schicksal. Nur ab und zu wechselten sie ein Wort.
Wäre die Rapacious unter vollem Segel auf See gewesen, hätte man den Gestank kaum wahrgenommen. Die Salzwassermassen, die ständig über das Netz am Bug hinwegschwappten, hätten dafür gesorgt, dass das Deck regelmäßig gewaschen wurde. Die Fäkalienreste, die sich um die Löcher ansammelten, wären ohne große Mühe beseitigt worden. Doch ein Schiff, das mitten auf einem Fluss vor Anker lag, der fast immer ruhig war und wo nur selten ein wenig Wellengang die Monotonie unterbrach, waren die sanitären Einrichtungen alles andere als befriedigend. In diesem Bereich war das Deck ziemlich nass und glitschig. Juvert schüttelte die letzten Tropfen ab, knöpfte seine Hose zu und wischte die Hände an der Jacke ab. Mit einem kleinen befriedigten Seufzer wandte er sich zum Gehen.
Der Tritt von Lasseurs Stiefel traf ihn im unteren Rücken, sodass sein Kopf gegen die Stütze des Netzes geschleudert wurde. Man hörte ein dumpfes Krachen, als Juverts schmale Nase aufprallte. Er schrie auf. Das Blut floss. Lasseur trat näher, packte Juvert an der Kehle und drückte zu. Das Blut aus Juverts gebrochener Nase tropfte auf sein Handgelenk.
»Erinnerst du dich?«, sagte Lasseur. In seinen Augen loderte die Wut.
Juvert riss die Augen auf, zuerst vor Schreck, dann vor Angst. Er stöhnte auf und versuchte sich mit einem Ruck zu befreien, aber Lasseurs Griff war eisern.
Hawkwood nahm Juverts linken Arm. Lasseur nahm den rechten. Sie zerrten ihn wieder auf die Füße.
»Wenn du Schwierigkeiten machst, hast du nicht nur’ne gebrochene Nase - dann brech ich dir das Genick.«
Mit grimmigem Lächeln sah Hawkwood hinüber zu den Gefangenen auf der Latrine, die mit offenem Mund dasaßen und nicht wussten, ob es ratsamer war, sitzen zu bleiben oder einen strategischen, wenn auch wenig eleganten Rückzug anzutreten. »Weitermachen, meine Herren. Wir gehen sowieso gerade.«
Sie verließen die Latrine, wobei sie den wimmernden Juvert zwischen sich nahmen. Die kleine Prozession wurde von vielen neugierigen Blicken begleitet. Einige runzelten die Stirn beim Anblick von Juverts blutverschmierter Visage, während er ohne weitere Umstände übers Deck gezerrt wurde, aber ein Blick auf Lasseurs wütendes Gesicht reichte, um jeden wissen zu lassen, dass es unklug wäre, sich einzumischen.
Lasseur beugte sich ganz dicht an Juverts Ohr. »Habe ich dich gewarnt, den Jungen in Ruhe zu lassen, oder nicht?«
»We - welcher Junge?«, stotterte Juvert. Beim Zusammenstoß mit der Stütze war seine Lippe geplatzt und hatte die paar Zähne, die ihm noch geblieben waren, gelockert.
Es war die falsche Antwort. Lasseur schwenkte Juvert herum und schleuderte ihn gegen das gewölbte Schott. Dann schlug er ihm mit voller Wucht ins Gesicht. »Versuche nicht, irgendwelche Spielchen mit mir zu treiben! Dazu bin ich jetzt nicht aufgelegt.«
»Was hab ich denn gemacht?«, kam es schwach über Juverts blutige Lippen.
Ehe er sich’s versah, hatte Lasseur ihm einen noch heftigeren Faustschlag versetzt.
Wieder stieß Juvert ein hohes, heiseres Krächzen aus. Aus seiner Nase tropfte Blut und rann über sein Kinn.
»Du hast doch den Jungen, Lucien, entführt, stimmt’s?«, fragte Lasseur mit Nachdruck.
Die Hand über der Nase, murmelte Juvert etwas Unverständliches. Der Schmerz hatte ihm Tränen in die Augen getrieben.
»Was?«, Lasseur hielt die Hand hinter sein Ohr. »Bisschen lauter, wir verstehen nichts.«
Juvert, der einen weiteren Schlag erwartete, hob die Hände. »Ich musste es tun.« Die Worte blubberten aus seiner gebrochenen Nase und der geplatzten Lippe hervor.
»Musste?«, sagte Hawkwood.
Juvert spuckte einen Klumpen Blut aus. »Es war Matisse! Er hat mich dazu gezwungen. Ich hatte Sp - Spielschulden bei ihm. Er sagte, wenn ich ihm den Jungen bringe, sind wir quitt.«
»Du erbärmliches Stück Scheiße«, fauchte Lasseur. Er holte mit der geballten Faust aus.
Juvert krümmte sich und schloss die Augen. »Bitte …«
»Bitte? Du wagst es noch, zu bitten? Hat Lucien Ballard um Gnade gebeten? Hat einer der anderen Jungen um Gnade gebeten, die du zu ihm gebracht hast?«
Juvert wich zurück.
Besorgt, dass Lasseur Juvert völlig zusammenschlagen würde, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten, ging Hawkwood mit der Hand dazwischen.
»Du wirst uns zu Matisse bringen«, sagte er. »Und dann werden Captain Lasseur und ich seiner Majestät klarmachen, dass er einen Fehler begangen hat.«