»Das dürfen Sie nicht«, bettelte Juvert und versuchte wieder, sich zu befreien. Sein verängstigter Blick ging erst zu Hawkwood, dann zu Lasseur, dann wieder zurück. »Sie kennen ihn nicht. Matisse bringt mich um.«
Hawkwood deutete mit dem Kopf auf Lasseur. »Und wenn du uns nicht zu ihm führst, bringt er dich um. Und wenn er es nicht macht, dann ich. Also los.«
Der Balken über dem Abgang hätte eine Inschrift tragen müssen, dachte Hawkwood, als er in die Dunkelheit hinunter sah: Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. Er hatte diesen Satz irgendwo einmal gehört, wusste aber nicht mehr, wann oder wo.
Lasseur hatte vom Geschützdeck eine Laterne mitgebracht. Er hielt sie über die Luke. Verglichen mit den anderen an Bord, war diese hier klein. Auch die Treppe nach unten sah schmaler und viel steiler aus. Von hier oben konnte Hawkwood nur mit Mühe die unterste Stufe erkennen. Sie lag im Dunkel und war kaum zu sehen. Es waren keine Anzeichen von Leben auszumachen, obwohl er schwache Geräusche hören konnte, die von tief im Inneren des Schiffsrumpfes zu ihm heraufdrangen; ein leises Flüstern, wie das Flattern winziger Flügel. Er hörte auch ein schwaches Rascheln, dann brummendes Gelächter und ein leises Klicken, wie wenn winzige Krallen über eine Tischplatte laufen.
Juvert sah aus wie jemand, der kurz davorstand, in eine Schlangengrube geworfen zu werden. Das Blut aus seiner gebrochenen Nase war auf seiner Oberlippe angetrocknet, und auf seinen Wangen waren senkrechte Schlieren, wo Schweiß und Tränen sich den Weg durch den Schmutz auf seinem Gesicht gebahnt hatten.
»Vorwärts«, befahl Hawkwood.«
Den widerstrebenden Juvert vor sich her schiebend, stiegen Lasseur und Hawkwood durch die Luke.
Es war, als stiege man in einen Backofen. Mit jeder Stufe war es Hawkwood, als würde mehr Luft aus seiner Lunge gequetscht. Er erinnerte sich an Murats Beschreibung des untersten Decks, und dass es verglichen mit dem Geschützdeck noch wesentlich niedriger war. Trotzdem war er, als er unten angekommen war, auf diese geringe Höhe nicht vorbereitet; die Decke war mindestens sechs Zoll niedriger als auf dem Geschützdeck. Er hörte einen dumpfen Schlag. Die Laterne schaukelte hin und her, und er hörte Lasseur fluchen, ein Beweis, dass es selbst für erfahrene Seeleute noch Überraschungen gab. Hardy, der Kapitän der Victory , sollte einiges über sechs Fuß groß gewesen sein. Weiß der Himmel, wie der klargekommen war. Der Mann muss ja ständig blaue Flecken gehabt haben.
Hawkwood vermutete, dass seine Ankunft sich herumgesprochen hatte, sowie Juvert seinen Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Das Flüstern, das er vorhin zu hören glaubte, hatte zugenommen, als die Nachricht von seiner Ankunft sich auf dem Deck verbreitete. Es klang wie Blätterrauschen im Wind. Wenn das Schiff noch seetüchtig gewesen wäre, hätte dieses Deck unter dem Wasserspiegel gelegen, ohne jede Zufuhr von frischer Luft oder natürlichem Licht. Aber Hawkwood hatte vom Boot aus gesehen, dass man auf Höhe dieses Decks Fensteröffnungen in den Schiffsrumpf gesägt hatte. Sie waren kleiner als die Geschützöffnungen auf dem Deck darüber, ebenfalls viereckig und mit Eisenstäben vergittert, aber dennoch groß genug, dass Tageslicht einfiel, wie Hawkwood erleichtert feststellte. Er wäre nicht gern im Dunkeln hier herumgeirrt, mit nichts weiter als einer Laterne als Lichtquelle.
Das Geschützdeck ähnelte einem Keller, doch dieses Deck hier war eher wie eine Katakombe. Wieder hörte er Lasseur leise fluchen und dachte daran, wie der Privateer ihm von seiner Reise auf einem Sklavenschiff vor Südafrika erzählt hatte. Es schien, als durchlebte er diese Abenteuer jetzt wieder. Die Hitze allein wäre schon genug gewesen, um die Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Sie war erstickend, viel schlimmer als auf dem Geschützdeck, und die feuchte Luft war unerträglich. Hawkwoods Hemd war vom Schweiß durchnässt, auf seiner Haut kribbelte es unangenehm.
Wenn man Charbonneau Glauben schenken durfte, dann zogen die Römer die Dunkelheit vor. Doch das schien nicht ganz zu stimmen, wie die offenen Bullaugen bewiesen, außerdem sah Hawkwood auch Laternenlicht. Er überlegte, ob es nicht eher die Angst der Römer und Rafalés vor Außenseitern war, die sie praktisch nachtaktiv gemacht hatte, als ihre angebliche Vorliebe für die Dunkelheit.
Als er einen Blick auf das dämmerige Deck warf, erkannte er grob gezimmerte Bänke und Reihen von Schlafpritschen. Viele der Männer, die dort lagen, waren nackt. Sie lagen dicht aneinandergedrängt wie Löffel in einer Schublade, ihre Haut war leichengrau. Andere, die noch Reste von Kleidung anhatten, erinnerten an Vogelscheuchen, während diejenigen, die ihre Decken wie Togen trugen, eher Nachtfaltern ähnelten, die vor dem dunklen Hintergrund verschwanden oder um die flackernden Kerzen herumhockten, wo sie mit spinnendürren Fingern Karten spielten.
Hawkwood, dem das Hemd am Körper klebte, fing an, die nackten Männer zu beneiden. Es wurde immer schwerer, hier zu atmen. Nun verstand er auch das leise Klappern von vorhin, und es ärgerte ihn, nicht gleich erkannt zu haben, dass es sich um hölzerne und knöcherne Würfel handelte, die über eine Tischplatte rollten. Selbst nackt und halbverhungert waren die Rafalés noch immer damit beschäftigt, ihr Leben mit Glücksspielen zu verbringen. Trotz der Dunkelheit konnte man ihre wilden Gesichter sehen, die sich um jede kleinste Kerzenflamme drängten. Jeder Wurf wurde mit aufgeregtem Geschrei oder irrem Gelächter quittiert. Es war, als ginge man durch die Korridore eines Irrenhauses.
Köpfe drehten sich nach den Eindringlingen um. Auf einigen Gesichtern lag unverhohlene Feindseligkeit. Andere schienen sich eher zu fürchten, weil man ihren Bereich betreten hatte. Einige der Männer auf den Schlafpritschen, die sich inmitten dieses Elends einen winzigen Funken von Anstand bewahrt hatten, rollten sich zusammen und versuchten, sich mit ihren kümmerlichen Fetzen zuzudecken. Die anderen drehten sich weg und hofften, in der Dunkelheit unsichtbar zu werden.
Charbonneau hatte die Bewohner des untersten Decks Tiere genannt. Selbst wenn man Zugeständnisse an sein Vorurteil machte, schien das ein hartes Urteil, aber wenn man sich hier umsah, musste man ihm Recht geben. Während Hawkwood auf dem Deck weiterging, drehte sich ihm der Magen um beim Gestank und Anblick der Gefangenen, die hier in ihrem eigenen Dreck lagen.
»Hier würde ich nicht mal einen Hund halten wollen«, flüsterte Lasseur entsetzt.
Es schien unvorstellbar, dass Menschen sich so degradieren konnten. Hawkwood fragte sich, ob es britischen Gefangenen in französischen Gefängnissen wohl ebenso ging. Er wusste nicht, ob die Franzosen dafür auch Schiffe benutzten. Er wusste, es gab Festungen, die zu Gefängnissen geworden waren; viele davon waren im Norden, bei Verdun, Quimper und Arras. Waren die Zustände dort so schlimm wie hier? Man musste doch vermuten, dass jeder französische Gefangene, dem die Flucht gelungen war, keine Zeit verschwenden würde, um die brutalen Bedingungen publik zu machen, unter denen er festgehalten worden war. Und man konnte sich vorstellen, dass die Franzosen ihrerseits dafür sorgen würden, dass die Briten im Gegenzug mit derselben Verachtung behandelt wurden.
Wie viele Soldaten hatte Hawkwood immer einen schnellen Tod auf dem Schlachtfeld für weitaus wünschenswerter gehalten, als verwundet vom Feldchirurgen aufgeschnitten und begutachtet zu werden, um dann langsam und schmerzvoll als Krüppel zu sterben. Jetzt, tief gebückt und von jämmerlichstem Elend umgeben, erkannte er, dass es noch schlimmere Schicksale gab als das Messer des Chirurgen. Gefangen genommen zu werden und an einem Ort wie diesem eingesperrt zu sein - das war auch eine Art von Tod; ein ganz langsamer, allmählicher Tod. Und das verdiente kein Mensch, egal auf welcher Seite er kämpfte.
Während Hawkwood sich unter den Deckenbalken weitertastete und versuchte, keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bemerkte er einige dunkle Gegenstände, die an die Stützpfeiler genagelt waren. Neugierig blieb er stehen. Lasseur hob die Laterne höher, und Hawkwood erkannte, dass er vor Rattenfellen stand, an denen noch Ohren und Schwänze waren. Was hatte Charbonneau gesagt? Selbst die Ratten sind vor ihnen nicht sicher. Hawkwood überlegte, wie Ratte wohl schmecken mochte. Angewidert drehte er sich weg.