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Sie hatten fast den Bug erreicht. Vor ihnen ragte stabil und zuverlässig der untere Teil des Fockmastes aus dem Deck. Hier war es nicht so überfüllt wie weiter hinten, stellte Hawkwood verwundert fest. Fast schien es, als wäre der Mast so etwas wie ein Totempfahl, den die meisten der Rafalés als eine Art Grenze respektierten, hinter die man nicht ging.

Hawkwood merkte plötzlich, wie ihm der Rücken wehtat, die Folge des ständigen Bückens. Er versuchte, den Schmerz zu lindern, indem er sich vorsichtig aufrichtete, erwartete aber gleichzeitig, dass das wenig Sinn haben würde. Doch erstaunt stellte er fest, dass die Deckenhöhe zwischen den Querbalken etwas großzügiger war. Er konnte zwar noch immer nicht ganz gerade stehen, aber es war entschieden besser als die jämmerliche Höhe am unteren Ende der Treppe.

Juvert blieb stehen. Plötzlich schien ihn wieder die Angst zu packen. Hawkwood spähte angestrengt nach vorn. Er hörte Stimmen, aber in dem Teil des Bugs, der vor dem Fockmast lag, herrschte fast undurchdringliche Dunkelheit und er konnte nichts erkennen. Doch dann hörte er ein brutales Gelächter und sah näher hin. Er brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass dort eine dicke Schicht von Decken wie ein Vorhang vom Balken hing, wodurch der Raum am Bug vom Rest des Decks praktisch abgetrennt war. In der Dunkelheit hinter dem Vorhang hörte man Sprechen und das Klappern von Würfeln.

Lasseur hob die Laterne. Er nickte. Hawkwood ergriff Juverts Arm und zog eine Seite des Vorhangs zurück.

Während seiner Zeit in der Armee hatte Hawkwood so manche Seereise mitgemacht. Die Bedingungen waren fast ausnahmslos ziemlich primitiv gewesen. Aber er konnte sich noch gut an die Transportschiffe erinnern und hatte eine ungefähre Ahnung von ihrem Grundriss unter Deck. Im früheren Leben der Rapacious war der Raum am Bug wahrscheinlich vom Bootsmann und vom Schiffszimmermann bewohnt gewesen, der hier sicher auch seine Werkstatt hatte. Außerdem hätte hier das Munitionslager der Kanoniere gelegen. Dieser ganze Teil des untersten Decks wäre durch ein gewölbtes Schott vom restlichen Deck getrennt gewesen. Auf der Rapacious war dieses Schott jetzt entfernt worden. Kabinen und Vorratslager waren dunkle Nischen, die nur von Laternen beleuchtet waren, einige waren hinter aufgehängten Decken völlig verborgen. Hawkwood sah, dass man auch vor die Fensteröffnungen Fetzen von Decken gehängt hatte, damit weniger Tageslicht durch die Gitter kam.

Hier hielten sich vielleicht zehn bis zwölf Männer auf, die an den Tischen saßen oder sich auf den Pritschen ausstreckten, die meisten von ihnen trugen die gelbe Gefangenenkluft, doch einige trugen auch eine Decke als Toga. Zwei der Männer waren mit einem Würfelspiel beschäftigt. Weitere vier spielten an einem anderen Tisch Karten - Drogue, wie Hawkwood beim Anblick zweier Männer schloss, die sich Holzklammern auf die Nase geklemmt hatten und den Ausgang der nächsten Runde abwarteten.

Hawkwood fand, dass es hier gar nicht so viel anders aussah als in den Schnapsspelunken der Slums. Der einzige Unterschied war, dass hier ein halbes Dutzend Hängematten an den Deckenbalken baumelten.

Als Hawkwood und Lasseur eintraten, hörten die Gespräche schlagartig auf. Am Kartentisch setzten sich die beiden Männer, die am Verlieren waren, aufrecht hin und entfernten heimlich ihre Nasenklammern.

Hawkwood sprach zuerst. »Wir suchen Matisse.«

Niemand antwortete, und einige der Männer beäugten sie argwöhnisch.

»Na, habt ihr die Sprache verloren?« Hawkwood packte Juvert beim Ellbogen. »Welcher ist es?«

Juvert wand sich. Sein Mund war ein stummes O. Er schlotterte vor Angst, aber ehe er antworten konnte, standen einige der Männer auf. Ihre Hände waren nicht leer. Jeder war mit etwas bewaffnet, das wie eine schwere Metallklinge aussah, ungefähr achtzehn Zoll lang.

Nun, Fouchet hat uns ja gewarnt, dachte Hawkwood. Aber Säbel? Er hörte, wie Lasseur etwas Obszönes murmelte.

Die Bänke wurden geräuschvoll zurückgestoßen. Würfel und Karten waren vergessen.

Einer der Bewaffneten schlurfte vor. Es war ein massiger Kerl mit krummen Beinen und niedriger Stirn. »Was habt ihr hier zu schaffen?«

Das Licht der Laterne beleuchtete sein Gesicht. Ein großes, birnenförmiges Muttermal, dunkel wie ein Leberfleck, bedeckte seine rechte Wange bis auf den Unterkiefer hinab. Irgendwann war auch seine Nase einmal gebrochen gewesen. Sein Haar war lang und fettig, doch mitten auf dem Kopf war er kahl, die runde Glatze sah aus wie eine Mönchstonsur.

Hawkwood warf einen verstohlenen Blick auf die Klinge, die der Mann in der Hand hatte. Sie sah aus wie ein Fassreifen, den man flach gehämmert hatte. Die Klinge war alles andere als scharf, sah aber aus, als könne sie trotzdem noch erheblichen Schaden anrichten.

»Bist du Matisse?«

Der Mann sah überhaupt nicht königlich aus.

»Ich bin Dupin.«

»Dann bist du nur der Affe. Wir suchen den Leierkastenmann.«

Aus der Nähe sah Hawkwood, dass Dupins Kluft etwas anders aussah. Neben den schwarzen Pfeilen und den Nummern auf den Ärmeln und Hosenbeinen war der Stoff mit einem unregelmäßigen Muster aus kleinen schwarzen Punkten übersät. Einige der Punkte bewegten sich. Dupins Kluft wimmelte von Läusen. Hawkwoods Haut fing an zu jucken. Er unterdrückte den Drang, sich zu kratzen und schluckte den sauren Geschmack herunter, der in seiner Kehle aufgestiegen war.

Lasseur hatte das Ungeziefer auch gesehen. Die Laterne beleuchtete sein angewidertes Gesicht. Unwillkürlich schüttelte er sich.

Hawkwood sagte: »Richte seiner Majestät aus, dass die Captains Hooper und Lasseur hier sind. Er wird schon wissen, worum es sich handelt.«

»Und zwar schnell«, fügte Lasseur hinzu. »Sonst kannst du gleich Platz machen.«

Dupin starrte auf Juverts verletztes Gesicht. Dann drehte er sich um. Er deutete den Männern hinter sich mit einer Kopfbewegung an, zur Seite zu treten, worauf im Hintergrund ein weiterer Tisch sichtbar wurde. Um ihn saßen fünf Männer. Soweit Hawkwood feststellen konnte, gab es hier also keinen Thron, nur Bänke. Es gab auch keine Krone oder Staatsgewänder. Auf dem Tisch standen Krüge und Flaschen, daneben Teller mit Brot- und Käseresten.

Die Gestalt in der Mitte des Tisches beugte sich vor und Hawkwood sah einen sauber rasierten, ovalen Kopf mit einem völlig farblosen Gesicht.

Lasseur schnappte nach Luft. Es war keine Reaktion auf den kahlen Kopf des Mannes, sondern auf seine Augen. Sie hatten, soweit man sehen konnte, keine Pupillen. In der Mitte waren die Augen nicht dunkel, sondern rosa wie das Innere einer Muschel, als hätte man einen Fingerhut voll Blut in einen Teller Milch gekippt. Noch seltsamer war, dass dieser Kopf irgendwie körperlos erschien, denn der Rest der sitzenden Gestalt war vom Hals abwärts völlig in Schwarz gehüllt, bis auf einen weißen, dünnen Arm, den er lässig um die Schulter des kleinen blonden Jungen gelegt hatte, der neben ihm saß.

»Matisse.« Lasseur flüsterte den Namen wie eine Obszönität. Er machte einen Schritt auf ihn zu, aber sofort wurde ihm der Weg verstellt.

Die dünnen, blutleeren Lippen sprachen.

»Schon gut, Dupin. Du kannst ihn vorbeilassen. Wir haben sie erwartet.«

7

Hawkwood starrte die rosa Augen und den rasierten Kopf an und überlegte, welche Farbe Matisses Haar wohl hätte. Man hatte doch einen Namen für Menschen, deren Haar so blond war, dass es fast weiß schien, und deren rot geränderte Augen aussahen, als seien sie blutunterlaufen. Weißgesicht nannten manche sie, obwohl das nicht der einzige Name war. Es war in Spanien gewesen, wo Hawkwood dieses Phänomen zum ersten und einzigen Mal bisher gesehen hatte. Es war ein kleiner Junge gewesen, in einem Waisenhaus, das Mönche in der Nähe von Astariz leiteten. Der Junge war als Baby in einem Beichtstuhl ausgesetzt worden, man hatte ihn in eine Decke gewickelt, und sein einziger Besitz war ein kleines silbernes Kreuz gewesen, das er an einem Schnürsenkel um den Hals trug. Das Kind war sieben Jahre alt, als Hawkwood es kennenlernte, und es galt als ein kleines Wunder, denn niemand hatte erwartet, dass es mehr als höchstens vier Jahre alt werden würde. Die Augen des Jungen waren sehr lichtempfindlich gewesen, erinnerte Hawkwood sich, und deshalb musste er fast den ganzen Tag in einem abgedunkelten Raum zubringen. Einer der Klosterbrüder hatte Hawkwood erzählt, dass das Wort, mit dem man diese Menschen bezeichnete, von portugiesischen Händlern stammte. Es war der Name, den sie den weißen Negern gaben, die sie an der afrikanischen Küste gesehen hatten. Die hatten sie Albinos genannt.