Matisses Augenfarbe deutete darauf hin, dass er unter der gleichen Anomalie litt. Vielleicht war das auch der Grund für die angebliche Vorliebe der Römer für die Dunkelheit. Womöglich basierten diese Gerüchte lediglich auf einer falschen Einschätzung des Gebrechens, unter dem ihr Anführer litt.
Hawkwoods Gedankengang wurde unterbrochen.
»Captain Lasseur! Welche Ehre! Wir haben nicht oft die Gelegenheit, einen Seehelden unserer Republik kennenzulernen. Erst gestern habe ich meinen Freunden hier von Ihren Taten erzählt. Und sie waren sehr beeindruckt; besonders von Ihrer Eroberung des britischen Schiffs, der Justice. Wo war das gleich wieder? Vor der Küste von Oran? Ich hörte, sie war Ihnen an Geschützen weit überlegen. Da haben Sie großen Mut bewiesen. Wir bewundern einen Mann mit Rückgrat, nicht wahr, Jungs?«
Seine Sprache war merkwürdig rau und von einer Art tonlosem Pfeifen begleitet. Seine spöttische Rede war stark akzentuiert, und es klang, als würden die Worte weniger gesprochen als ausgespuckt. Hawkwood vermutete, es könne ein Merkmal des korsischen Dialekts sein. Die anderen Männer, die um den Tisch herumlümmelten, reagierten nicht darauf. Sie sahen genauso verlottert aus wie ihr Anführer und schienen wenig begeistert zu sein, Besucher zu haben, egal wie berühmt.
»Und Sie müssen unser tapferer amerikanischer Verbündeter Captain Hooper sein! Leider ist uns Captain Hoopers Ruhm noch nicht zu Ohren gekommen, was zweifellos nur ein Versehen sein kann. Dennoch, mein Beileid zu Ihrer Gefangennahme, Sir. Der Kaiser kann alle Hilfe gebrauchen. Meine Spione berichten, Sie seien gerade aus Spanien zurückgekommen; ein blutiges Schlachtfeld, wie ich höre. In den Zeitungen steht, dass Wellington uns ganz schön eins auf den Deckel gegeben hat. Stimmt das, oder ist das nur Propaganda?«
Hawkwood ignorierte die Frage. Mit einem Tritt beförderte er Juvert näher an den Tisch. »Ich glaube, das hier gehört Ihnen.«
Überraschung und Schwerkraft taten ein Übriges. Der Fußtritt hatte Juvert fast vom Boden gehoben. Er streckte die Hände aus, um sich abzufangen, und schlitterte unter erschrecktem Gewinsel über das Deck, wobei einige Männer, die in seiner Flugbahn standen, hastig zur Seite traten. Der Junge erschrak, die Augen weit aufgerissen. Die Männer, die zu beiden Seiten von ihm saßen, waren aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufgeschreckt und setzten sich aufrecht hin. Ihre Gesichter wirkten schockiert.
Der Mann mit dem rasierten Kopf veränderte seine Haltung nicht. Es war nicht einfach, den Gesichtsausdruck einzuschätzen, mit dem er Juvert ansah, der ausgestreckt vor ihm lag. Nur seine schwer arbeitenden Kaumuskeln verrieten, was er dachte. Er sah auf, den Arm immer noch um die Schulter des Jungen gelegt.
»Sie haben einen Hang zum Dramatischen, Captain Hooper, das muss man Ihnen lassen. Aber allem Anschein nach teilt Claude diese Begeisterung nicht. Es stimmt schon, er macht ab und zu Botengänge für mich. Leider muss ich sagen, nicht immer zu meiner vollen Zufriedenheit.« Dieser letzte Satz enthielt eine Drohung, die nicht zu überhören war.
Juvert erhob sich auf die Knie und zuckte zusammen. Seinem kreideweißen Gesicht war anzusehen, dass er die drohende Nuance in der Stimme seines Meisters bemerkt hatte. Er sah aus wie ein Mann, der versucht, sich zwischen Angriff und Rückzug zu entscheiden, obwohl er genau wusste, dass er wenig Sympathie zu erwarten hatte, egal was er machen würde.
Matisse machte eine kurze Bewegung mit seinem kahlen Kopf. »Bringt ihn weg.«
Juvert hatte keine Gelegenheit mehr, zu protestieren. Er wurde kurzerhand auf die Füße gestellt und hatte kaum noch Zeit, Hawkwood und Lasseur über die Schulter einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe er hinter dem Vorhang verschwand. Niemand schien sein Abtreten zu bedauern. Von draußen kam ein kurzes, halbersticktes Gurgeln, dann hörte man, wie etwas weggezerrt wurde. Dann war es still.
Matisse lehnte sich zurück. Er machte einen ganz ruhigen Eindruck, wie ein Mann, der mit sich und der Welt zufrieden ist. Seine Spinnenfinger spielten mit dem Haar im Nacken des Jungen. »Sie verzeihen, wenn wir nicht aufstehen. Wir sind keinen Besuch gewohnt. Übrigens entschuldige ich mich für die unzureichende Beleuchtung. Meine Augen haben eine Aversion gegen das Licht; besonders Tageslicht. Selbst Kerzenlicht verursacht mir einiges Unbehagen. Ein unbequemes Leiden, aber ich habe mich daran gewöhnt.«
Die Worte bestätigten Hawkwoods Vermutung. Das erklärte auch die Fetzen, mit denen man die Fenster zugehängt hatte.
»Wir scheißen auf Ihre Gesundheit«, sagte Lasseur kurz. »Wir sind wegen des Jungen hier.«
Die Männer um den Tisch erstarrten. Der rasierte Kopf neigte sich leicht. Lucien Ballard saß reglos da; er war starr vor Angst. Die Hand in seinem Nacken hatte aufgehört, sich zu bewegen, ließ ihn aber nicht los.
Eine nervöse Spannung erfasste Hawkwood.
»Er gehört nicht hierher«, sagte Lasseur.
»Tatsächlich? Und wer sagt das?«
Die Finger fingen wieder an, zu streicheln. Es erinnerte Hawkwood an das Streicheln einer Katze. Doch Lucien Ballard schnurrte nicht. Er wirkte wie hypnotisiert.
»Ich hatte Juvert gewarnt, sich nicht wieder zu zeigen«, sagte Lasseur. »Er hat sich mir widersetzt - auf Ihren Befehl.«
Die Hand des Korsen stand wieder still. Mit einem scharfen Ruck hob er den Kopf.
»Er hat sich wider-setzt? Sie haben Juvert keine Befehle zu erteilen, Captain Lasseur. Er ist mein Abgesandter. Falls Sie es vergessen haben, Sie sind hier nicht auf Ihrem Geschützdeck. Dies ist meine Domäne. Sie sind hier ein Eindringling.«
»Da hat Commander Hellard vielleicht noch ein Wort mitzureden«, sagte Hawkwood leise. Es war nicht nur der Blick des Mannes, der einen verwirrte, merkte er jetzt. Matisse schien auch kaum die Lider zu bewegen.
»Hellard?«, sagte der Kahlköpfige verächtlich. »Hellard ist ein Schlappschwanz. Der ist doch nur dem Namen nach Commander. Hier regiere ich, nicht er.«
»König Matisse?«, sagte Hawkwood, und fragte sich, ob das der Grund gewesen war, weshalb Hellard keinen Befehl zum Schießen gegeben hatte.
Die rosa Augen waren direkt auf Hawkwood gerichtet. Es war ein beunruhigendes Gefühl. Er hatte den Eindruck - soweit man es nach dem bisherigen Gespräch beurteilen konnte -, dass hinter dieser grotesken Fassade eine gefährliche Intelligenz am Werke war.
»So nennen mich einige, obwohl ich mich, ehrlich gesagt, gar nicht erinnern kann, wie das anfing. Manche würden es wohl für übertrieben halten, aber warum sollte ich es verbieten? Es erfüllt seinen Zweck, denn es hilft, den Pöbel in Schach zu halten.«
Seine Worte klangen verächtlich. Hawkwood fragte sich, ob mit dem »Pöbel« auch die Männer gemeint waren, die hier mit ihm saßen, und wie diese wohl darüber dachten. Doch es schien, als hätte niemand es übel genommen. Vielleicht wussten sie auch nicht, wen er gemeint hatte, oder sie dachten, es beziehe sich auf den Rest der Rafalés.