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Ein dünnes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Glatzkopfs. »Ich persönlich sehe mich eher als einen Pastor, einen Hirten, der sich um das Wohlergehen seiner Herde kümmert.« Seine Finger beschäftigten sich wieder mit dem Kragen des Jungen.

Nicht schon wieder, ging es Hawkwood durch den Kopf, während es ihm kalt über den Rücken lief. Von Pastoren und Predigern habe ich seit dem letzten Mal noch genug.

Vielleicht war das auch der Grund, warum Matisse schwarz gekleidet war: um diese Illusion zu festigen; vielleicht aber auch, um auf unheimliche Art seine geisterhafte Gesichtsfarbe zu unterstreichen und damit noch markanter zu wirken. Mattisses Erscheinung war tatsächlich der eines Pfarrers sehr ähnlich. Sie wies keine überflüssigen Verzierungen oder sonstigen Putz auf, bis auf eines: einen winzigen tränenförmigen Anhänger, der manchmal im Laternenschein aufblitzte. Es war eine Perle an seinem linken Ohrläppchen.

Lasseur knurrte: »Zum letzten Mal. Geben Sie den Jungen raus.«

Matisse drehte den Kopf und der Ohrring schaukelte. »Wissen Sie, als Juvert mir erzählte, dass Sie sich für ihn interessierten - ich muss gestehen, dass ich da ziemlich überrascht war. Was sollten wir davon halten? Vielleicht wollten Sie ihn für sich, Captain Lasseur, sind Sie deshalb hier?«

»Ich bin hier, damit ihm nichts passiert.«

»Passiert?« Matisse nahm die Hand vom Nacken des Jungen und legte sie aufs Herz. Seine Fingernägel waren lang und verfärbt, die Spitzen scharf wie Krallen. »Sie denken, ich würde einem Kind etwas antun? Wie können Sie so etwas sagen? Ich bin tief verletzt, Captain.«

»Versuchen Sie keine Spielchen mit mir«, sagte Lasseur.

»Spielchen?«

»Fouchet hat uns gewarnt.«

»Ach ja, der Lehrer. Und genau wovor hat er Sie gewarnt?«

»Er hat uns vor Ihnen gewarnt«, sagte Lasseur. Vor Ekel klang seine Stimme rau, als hätte er Kies im Hals. »Er erzählte uns von den anderen.«

»Andere?«

»Die anderen Jungen, die Sie hier unten hatten.«

»In der Tat?« Der Korse spitzte die Lippen. »Dieser alte

Mann wird in letzter Zeit ziemlich streitsüchtig. Den muss ich mir mal vorknöpfen.« Er hob sein madenweißes Gesicht. »Er muss in seine Schranken verwiesen werden.«

»Also bestreiten Sie es nicht?«

»Warum sollte ich?« Matisse tätschelte dem Jungen die Wange und drehte Lucien Ballards Gesicht zu sich hin. Die Unterlippe des Jungen fing an zu zittern. »Haben Sie schon jemals etwas so Reines gesehen?«

»Er ist ein Kind.«

»Ja, das ist er. Ein süßes Kind, aber bei Ihnen klingt das alles so schmutzig, Captain. Denken Sie denn, wir seien alle Jünger Sodoms? Ich versichere Ihnen, größer könnte Ihr Irrtum gar nicht sein. Wenn wir nicht hier in diesem elenden Schiff eingeschlossen wären, glauben Sie denn, dass wir diese Unterredung überhaupt hätten? Wir sind weit von der Heimat, von unseren Frauen und unseren Liebsten. Was soll ein Mann denn machen? Wir sehnen uns doch nur nach ein bisschen Zärtlichkeit. Das ist doch nichts Schlimmes, oder? Ein Mann ist nicht dafür geschaffen, allein zu sein. Als Mann hat man seine Bedürfnisse. Was ist so schlimm daran, wenn man Freundschaft und Zuneigung sucht, um diese dunkle Zeit zu bewältigen? Wollen Sie uns das streitig machen? Wer sind Sie, darüber zu befinden?«

»Zuneigung?«

»Ja, Zuneigung. Sag’s ihnen, Junge. Erzähl’s dem Captain. Hat Matisse dir wehgetan? Nein. Sehen Sie? Nicht ein Haar habe ich ihm gekrümmt. Er ist vollkommen sicher bei mir.«

»Sicher?« Lasseur starrte Matisse an. »Sie wollen ihn doch mit ins Bett nehmen und zu einem Ihrer Lustknaben machen! Sie würden ihn hier unter dem übrigen schwulen Abschaum herumreichen - und das nennen Sie sicher

Stühle wurden zurückgeschoben. Die Männer am Tisch scharten sich um ihren Anführer.

In Matisses Wange zuckte es. »Habt ihr das gehört? Abschaum hat er euch genannt, und noch dazu schwulen Abschaum. An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, Captain. Die Navy mag Sie noch so sehr schätzen, aber hier sollten Sie daran denken, wo Sie sind. Und was diesen Jungen hier angeht, wer hat ausgerechnet Sie zu seinem Vormund ernannt? Sie haben doch nicht etwa ein Recht darauf, oder?« Er unterbrach sich einen Moment. »Schließlich ist er doch nicht Ihr Sohn, stimmt’s?«

»Du verdammtes Schwein!«, fluchte Lasseur. Er ging einen Schritt vorwärts. Sein Gesicht war starr wie eine Maske.

Aus Dupins Kehle kam ein warnendes Knurren. Er hob seinen Fassreifen.

Schnell legte Hawkwood seine Hand auf Lasseurs Arm. Die Muskeln im Arm des Privateers waren hart wie Schiffstaue. Hawkwoods Griff hatte gereicht, um Lasseur zurückzuhalten, aber nur so lange, wie der Franzose brauchte, um die Hand ungeduldig abzuschütteln. »Ich verlange, dass der Junge mir ausgehändigt wird, und zwar sofort!«

Es folgte eine tödliche Stille.

Die schwarz gekleidete Gestalt legte beide Handflächen auf den Tisch und erhob sich. Die Bewegung war mühelos, wie das Entrollen einer geschmeidigen Katze.

»Sie verlangen? Sie wagen es, hierherzukommen und etwas von mir zu verlangen? Sehen Sie sich um, Captain. Dies ist mein Reich. Hier regiere ich, und sonst niemand. Sie sind gerade erst angekommen, also sind Sie mit der Ordnung hier noch nicht vertraut. Gehen Sie zurück auf Ihr Geschützdeck und nehmen Sie Captain Hooper mit. Und wenn es Ihnen in den Sinn kommen sollte, Hilfe anzufordern, dann überlegen Sie sich das gut. Glauben Sie wirklich, die Briten haben Kontrolle über das, was hier auf dem Schiff vorgeht? Oh ja, sie haben ihre Musketen und ihre schönen Uniformen. Vielleicht haben sie sogar Autorität, aber glauben Sie auch nur einen Augenblick, dass sie Macht über uns haben? Auf diesem stinkenden Pott sind mehr als achthundert von uns eingesperrt. Was meinen Sie, was die machen würden, wenn es zu einer ausgewachsenen Revolte käme? Nicht die Briten halten die Gefangenen hier in Schach, sondern ich. Matisse! Commander Hellard mag mich verachten, vielleicht hat er sogar Angst vor mir. Aber Sie können sicher sein, dass er und der Rest seiner Mannschaft Gott dankten an dem Tag, an dem ich hier an Bord kam!«

»Du elendes Dreckstück!«, zischte Lasseur.

Einen schreckensstarren Moment lang dachte Hawkwood, dass Lasseur sich trotz Dupins Nähe über den Tisch werfen würde. Wenn er das täte, wären sie beide tot. Doch so schnell ihm der Ausruf entfahren war, hatte er sich auch wieder gefangen. Er sah Matisse an.

»In Ordnung, nennen Sie Ihren Preis.«

»Sie bieten mir Geld?« Immer noch dieser spöttische Ton.

»Wir wollen den Jungen. Ohne ihn gehen wir nicht.«

»Bravo, Captain! Mutige Worte. Haben Sie auch schon daran gedacht, dass Sie vielleicht gar nicht mehr zurückgehen werden?«

»Denken Sie etwa, Sie können uns aufhalten?«, sagte Lasseur.

»Natürlich kann ich Sie aufhalten. Ich brauche nur mit den Fingern zu schnipsen. Was meinen Sie, wie weit Sie dann kommen? Diesmal ist Ihnen der Feind wirklich an Geschützen überlegen.«

Hawkwood sah sich um und wusste, der Mann hatte Recht. Trotz Lasseurs Versuch, draufgängerisch aufzutreten, hatte keiner von ihnen eine Chance gegen Matisses Gefolgschaft. Sie wären dumm, es auch nur zu versuchen. Es war ein Fehler gewesen, so unvorbereitet zu kommen. Sie hatten die Macht unterschätzt, die Matisse über dieses Deck hatte; und wenn man seinem Prahlen Glauben schenken durfte, auch über das restliche Schiff.