Lasseur folgte seinem Blick und sein Gesicht verdunkelte sich. Er wandte sich nach dort, wo Matisse stand, den Arm um Lucien Ballards Schulter gelegt. »Es ist vorbei. Ihr Mann hat verloren. Jetzt geben Sie uns den Jungen.«
Matisse sagte: »Es tut mir leid, Captain. Ich verstehe nicht. Warum sollte ich das tun?«
Hawkwood wurde es eiskalt.
Lasseur nickte in Richtung des toten Türken. »Unser Abkommen. Sie sagten, wenn Captain Hooper Ihren Vertreter besiegt, würden Sie uns den Jungen aushändigen.«
»Sie irren sich, Captain. Das habe ich nie gesagt.«
»Was?«, sagte Lasseur. Seine Stimme bebte vor Zorn.
Ein kleines Lächeln umspielte den Mund des Korsen. Seine Hand lag leicht auf Lucien Ballards Nacken. Der Junge starrte auf die Leiche des Mamelucken. Er schien gelähmt vor Entsetzen.
Hawkwood sah in die Runde. Wenn jetzt eine Stecknadel zu Boden gefallen wäre, hätte es wie ein Kanonenschlag gewirkt.
»Die Sache ist die, Captain«, sagte Matisse, »je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass es nicht richtig wäre. Ich habe einen Ruf, den ich mir bewahren muss. Ich kann nicht einfach Neulinge hier herunterkommen lassen und mir sagen lassen, was ich zu tun habe. Wenn ich das zulasse, was hält dann jeden anderen Wurm davon ab, ebenfalls aus dem Gebälk gekrochen zu kommen und meine Autorität infrage zu stellen? Wie sähe es denn aus, wenn ich Ihnen den Jungen aushändigte? Es könnte mir als Schwäche ausgelegt werden. Es würde jeden anderen hier an Bord größenwahnsinnig werden lassen. Wo sollte das hinführen? Und noch wichtiger, was hätte ich davon?«
»Haben Sie schon mal daran gedacht, dass Sie sich damit vielleicht so etwas wie Respekt verschaffen könnten?«, sagte Hawkwood.
»Respekt?« Der Korse lachte dreckig. »Das ist es ja gerade, Captain. Ich will keinen Respekt. Ich will, dass man mich fürchtet. Wer mich fürchtet, der gehorcht mir auch. So entsteht Ordnung aus Chaos. Denken Sie, ich setze wegen eines kleinen Jungen meine Autorität hier aufs Spiel?«
»Wenn Sie gar nicht die Absicht hatten, Ihr Wort zu halten, was sollte das dann?«, fragte Lasseur und zeigte wütend auf den toten Türken.
Der Korse zuckte die Schultern. »Wir müssen alle Opfer bringen. Aber wer sagt denn, dass ich mein Wort nicht halte? Ich nicht, Captain. Sie haben lediglich die Bedingungen nicht richtig verstanden. Ich habe nie gesagt, dass ich Ihnen den Jungen aushändige. Was ich sagte, war, dass ich ihn freigebe.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Lasseur. »Wo ist denn der Unterschied?«
Matisse nahm das Gesicht des Jungen in seine Hände. Liebevoll streichelte er die glatte Wange, dann drehte er mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf zur Seite. Es krachte leise und Lucien Ballards Körper wurde schlaff. Matisse zuckte wegwerfend die Schultern, schob die Kinderleiche zur Seite und wischte sich die Hände ab. »Da, fertig. Ich habe ihn freigegeben. Das Problem ist gelöst.« Mit einer Kopfbewegung in Dupins Richtung sagte er: »Bringt sie beide um.«
Lasseurs Wutschrei hallte im Laderaum wider. Ehe jemand ihn zurückhalten konnte, machte er einen Satz, hob das heruntergefallene Rasiermesser des Mamelucken auf und ging damit auf Matisses Kehle los.
Wenn Matisse geschockt war, dann blieb es hinter den dunklen Brillengläsern verborgen. Nur sein Mund bewegte sich, stumm öffnete und schloss er ihn, während er vergeblich versuchte, mit den Händen an seinem Hals das Blut aufzuhalten, das wie eine Fontäne aus seiner verletzten Halsschlagader spritzte.
Als der Korse als blutendes Bündel über Lucien Ballards reglosem Körper zusammengebrochen war, drehte Lasseur sich blitzartig um, das Rasiermesser noch immer in der Hand. Seine Zähne waren entblößt. Er sah aus wie ein Berserker, ein Eindruck, der durch das Blut auf Gesicht und Kleidern noch verstärkt wurde. Schnell trat er neben Hawkwood. Die beiden drehten sich, so dass sie Rücken an Rücken standen.
»Wer ist der Nächste?«, brüllte Lasseur.
Auf Hawkwoods rechter Seite fluchte jemand. Einer von Matisses Männern trat aus dem Schatten, den Fassreifen erhoben. Hawkwood duckte sich und rammte seinen Ellbogen in den Bauch des Angreifers. Der Mann taumelte. Hawkwood trat ihm mit voller Wucht gegen ein Knie, und als der Mann zu Boden ging, entwand Hawkwood ihm den Fassreifen und hieb ihm damit über den Hinterkopf.
Hinter ihm schwang Lasseur, das wutverzerrte Gesicht voller Blut, wie ein Besessener das Rasiermesser. Ein weiterer Gefolgsmann Matisses taumelte schreiend zurück, seine Wange war bis auf den Kiefer aufgeschlitzt. »Kommt her, ihr gottverdammten Schweine!«, brüllte Lasseur. »Ich nehme euch alle mit!«
Hawkwood spürte, wie es an seiner linken Seite warm herunterlief, und er wusste, in dem Gefecht mit seinem letzten Gegner war die Wunde, die der Türke ihm beigebracht hatte, noch vertieft worden. Seine rechte Hand war ebenfalls blutüberströmt. Er packte den Fassreifen fester. Blut drang aus der Verletzung auf seinen Handknöcheln und sickerte zwischen seinen geschlossenen Fingern hindurch.
Hawkwood musste daran denken, wie ironisch es war, dass er sterben sollte, während ein Franzose ihn von hinten verteidigte. Nathaniel Jago wäre amüsiert gewesen, nein, er hätte es sogar für einen verdammt guten Witz gehalten.
Er wunderte sich auch, dass Matisses Männer noch immer bereit waren zu kämpfen, obwohl ihr Anführer doch tot war. Es schien keinen Sinn zu haben, es sei denn, sie dachten, dass er und Lasseur Anspruch auf Matisses Königreich erheben würden. Aber jetzt war keine Zeit, darüber zu diskutieren.
Plötzlich stieß Lasseur einen Fluch aus. Hawkwood nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass jemand mit einem Fassreifen auf seinen Kopf zielte. Er merkte, dass Lasseur den Abstand zwischen ihnen vergrößert hatte, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Man hörte einen Schlag, Metall auf Holz, dann einen Aufschrei, und dann musste er in seiner eigenen Ecke kämpfen, als zwei weitere von Matisses Männern angriffen. Hawkwood schwang das Metallband, um die Hiebe abzuwehren. Er schaffte es, einem zu entgehen, aber die selbstgemachte Klinge des anderen traf ihn von oben auf der Schulter. Sein linker Arm fühlte sich taub an.
Lasseur teilte immer noch Hiebe aus, als man etwas splittern hörte. Dann folgte das Geräusch eines Körpers, der auf Kies fällt, und dann ein gackerndes Freudengelächter, das nur von einem von Matisses Männern kommen konnte. Er hörte, wie Lasseur etwas rief, konnte es aber nicht verstehen. Dann sah er Dupin, jedoch zu spät. Der korsische Leutnant war hinter ihm und schwang den flach geschlagenen Reifen wie eine Keule über sich.
Hawkwood fühlte einen heftigen Schlag auf dem Rücken, etwas Hartes versetzte ihm einen Streifhieb gegen den Hinterkopf, und er fiel. Er versuchte, den Fassreifen festzuhalten, aber er fühlte seine Finger nicht mehr. Sie waren ebenfalls taub.
Er schlug aufs Deck und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch.
»Hübsche Stiefel.« Dupin stand über ihm und grinste ihn an. Hilflos sah Hawkwood, wie der Reifen sich senkte. Dann hörte er einen lauten Knall und Dupins Hinterkopf explodierte.
Es folgten mehrere Detonationen, dann eine Menge Menschen, und plötzlich war der Lagerraum voll roter Uniformen. Er sah sich nach Lasseur um und versuchte, sich aufzusetzen, aber es war ihm nicht möglich. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen. Es war weniger schmerzhaft, einfach liegen zu bleiben und sich treiben zu lassen. Das schien zu funktionieren. Seine Glieder verloren alles Gefühl. Es war nicht unangenehm. Plötzlich berührte eine Hand, die aus dem Nichts kam, seine Stirn, und er zuckte zurück. Bei der Bewegung schoss ein Schmerz durch seinen Kopf und in seine Brust. Dann fühlte er einen Arm unter seiner Schulter und sah ein Gesicht. Es war bärtig und kam ihm irgendwie bekannt vor.