Hawkwood und Lasseur machten ein verdutztes Gesicht. Dann stieß Lasseur einen Fluch aus. »Das Boot, das sie abtreiben ließen! Das war Pellow?«
Girard nickte, den Mund grimmig zusammengepresst. »Das waren Gefangene, die von Cadiz hierherverlegt worden waren. Als er sah, in welchem Zustand sie waren, behauptete er, sie hätten eine Infektionskrankheit und müssten auf das Krankenschiff. Aber die armen Teufel hatten nichts Ansteckendes, sie waren von den Spaniern nur miserabel behandelt worden. Aber die Briten sind ja auch nicht besser. Die behandeln ihre Haustiere besser als ihre Gefangenen, besonders wenn es sich um Franzosen handelt. Zum Glück sehen wir Pellow nur einmal die Woche, wenn es hoch kommt.«
»Bastard!«, war Lasseurs Kommentar.
Man merkte deutlich, dass in Lasseur noch immer die Wut brodelte. Zwar war sein Gesicht vom Blut gereinigt, aber Hawkwood dachte noch immer daran, wie der Zorn seine Züge verzerrt hatte, als er dem Korsen die Kehle durchschnitt. Hawkwood spürte einen scharfen Schmerz in der Stirn, fast als sei diese Erinnerung zuviel gewesen.
Sein Gesicht musste ihn verraten haben, denn der Arzt sah ihn besorgt an.
»Ach, Sie hätten mal den anderen sehen sollen«, sagte Hawkwood, ohne weiter nachzudenken.
Der Arzt machte ein ernstes Gesicht. »Oh, das habe ich, Captain Hooper. Ich habe sie alle gesehen. Sie haben ziemlich viel Schaden angerichtet, Sie und Captain Lasseur.« Der Blick des Arztes wanderte von einer Pritsche zur anderen.
Hawkwood ließ sich zurückfallen. »Wie viele?«
Girard sah ihn an. »Fünf Tote, einschließlich des Jungen.«
»Fünf!« Hawkwood versuchte, sich an den Ablauf der Geschehnisse zu erinnern. Er wusste noch, dass er Matisses Mann den eisernen Reifen abgenommen hatte, aber danach wurde seine Erinnerung undeutlich. Sein Kopf brummte auch immer noch ganz fürchterlich und es war besser, sich nicht anzustrengen.
»Es hat auch zwei Verwundete gegeben, mit Schnittwunden, die Ihren ganz ähnlich sind. Ich behandle solche Wunden nicht zum ersten Mal. Rasiermesser werden auf den Gefängnisschiffen häufig als Waffen benutzt, besonders bei Meinungsverschiedenheiten. Captain Lasseur war jedoch äußerst zurückhaltend, als ich ihn danach fragte.«
Hawkwood antwortete nicht.
Der Arzt zuckte die Schultern. »Na ja, wie auch immer. Mir müssen Sie nicht Rede und Antwort dazu stehen. Ich habe Befehl von Leutnant Hellard, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn Sie aufgewacht sind. Eigentlich hatte ich vorgehabt, das noch ein wenig hinauszuzögern, aber ich vermute, die Wachen draußen werden bereits Meldung gemacht haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn der Leutnant nicht schon jemanden losgeschickt hätte, um Sie abzuholen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass der Leutnant uns nicht auf unserem Krankenlager besucht?«, fragte Lasseur in gespielter Entrüstung. »Ich bin schockiert und zutiefst beleidigt.«
»Leutnant Hellard hält nicht viel von Hausbesuchen. Es ist eine Eigenheit, die er mit dem Schiffsarzt teilt«, fügte Girard verächtlich hinzu.
»Captain Hooper ist nach dem Schlag auf seinen Kopf ja gerade erst aufgewacht«, sagte Lasseur.
»Ich glaube, Leutnant Hellard wird der Ansicht sein, dass, solange Sie beide den Gebrauch Ihrer Beine nicht verloren haben, Sie sich unter bewaffneter Begleitung bei ihm einzufinden haben. Und wenn ich mich nicht irre, ist diese Begleitung bereits hier.«
Von der Treppe her kam das schwere Trampeln von Militärstiefeln.
»Die haben nicht viel Zeit verschwendet«, murmelte Lasseur.
Hawkwood sah vier Milizionäre, die sich durch die Pritschen hindurch ihren Weg zu ihnen bahnten. Das machte einige Schwierigkeiten, denn in dieser Enge war nicht viel Platz, mit den Musketen herumzufuchteln.
Der Arzt beugte sich herunter und sagte schnelclass="underline" »Nur damit Sie es wissen, ich habe Ihre Verletzungen etwas übertrieben, und auch die Zeit, die Sie zur Genesung brauchen. Es wäre gut, wenn wir vorläufig alle bei dieser kleinen Notlüge blieben.«
Hawkwood und Lasseur sahen sich an.
»Warum?«, fragte Hawkwood.
Aber der Arzt hatte sich schon abgewandt.
»Sergeant Hook! Es ist doch immer ein Vergnügen«, behauptete Girard.
Der Sergeant ließ seine Garde halten. Er beachtete den süffisanten Gruß des Arztes nicht weiter, sondern sah die beiden Männer auf den Pritschen streng an. »Aufgestanden! Befehl des Commanders!«
»Diese Offiziere sind längst noch nicht wieder bei Kräften, Sergeant«, sagte Girard. »Vielleicht könnten Sie Leutnant Hell …«
»Die atmen doch beide, oder?« Hook funkelte den Arzt an.
»Offensichtlich«, sagte der Arzt. »Aber …«
»Dann sollen sie ihre Ärsche von den Pritschen heben und mitkommen. Sonst helfen wir ihnen. Sie haben die Wahl, Herr Doktor. Mir isses egal.«
Der Arzt schluckte die Antwort hinunter, wandte sich an Hawkwood und Lasseur und sagte auf Französisch: »Der Sergeant ist tief betrübt, Sie so gebrechlich hier vorzufinden, und fragt, ob Sie beide die Güte hätten, Ihr Bett zu verlassen und ihn zum Quartier des Commanders zu begleiten.«
»Aber selbstverständlich«, sagte Lasseur und warf das Laken zurück. »Bitte richten Sie Sergeant Hook aus, dass wir uns freuen, ihn bei so blühender Gesundheit anzutreffen, und dass Captain Hooper und ich uns freuen würden, ihm zu folgen. Sie können ihm auch ausrichten, dass ich nicht umhin kann festzustellen, dass sein Gesicht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Kuharsch hat.«
In der Wange des Arztes zuckte es.
»Was hat er gesagt?«, fragte Hook misstrauisch.
»Er hat gefragt, ob Ihre Männer mit ihren Musketen nicht woanders hinzielen können. Sie machen ihn nervös.«
»Tun sie das?«, sagte Hook. Er gab Hawkwoods Pritsche einen Fußtritt. »Los, auf die Beine!«
»Was für ein widerlicher kleiner Kerl«, sagte Lasseur. »Ich hoffe, seine Eier schrumpfen, bis sie so klein wie Korinthen sind.«
»Wenn sie nicht vorher jemand abschneidet«, fügte Hawkwood hinzu.
»Möge Gott uns jetzt eines von Sébastiens Wundern bescheren«, sagte Lasseur, indem er nach seinen Stiefeln angelte.
»Sie werden Ihre Jacke brauchen«, sagte Girard zu Hawkwood und reichte sie ihm. »Ich fürchte, ihr Hemd war nicht mehr zu retten.«
Genau wie mein verdammter Auftrag, dachte Hawkwood.
»Ich werde nicht dulden, dass Gefangene auf meinem Schiff ihre privaten Streitigkeiten auf diese Weise austragen!« Leutnant Hellard fixierte Hawkwood und Lasseur mit dem Blick eines Basilisken. »Selbst wenn es sich nur um Abschaum handelt, der anderen Abschaum umbringt.« Er sah Murat an. »Haben Sie verstanden?«
Der Dolmetscher nickte und man sah ihm an, dass er sich unbehaglich fühlte. »Ja, Sir.«
»Dann sagen Sie’s ihm«, sagte Hellard und deutete auf Lasseur.
»Das ist nicht nötig, Commander«, sagte Lasseur. »Ich spreche Englisch.«
Hellard warf dem Privateer einen wütenden Blick zu. Lasseur erwiderte seinen Blick völlig ungerührt. Der Leutnant wandte daraufhin seine Aufmerksamkeit Hawkwood zu. Er musterte die blutgetränkten Verbände. Dann sah er ihn an und runzelte die Stirn. Hawkwood überlegte, ob der Commander sich wohl an den Moment auf dem Quarterdeck erinnerte, als er die Reihe der Gefangenen mit den Augen abgesucht hatte nach jemandem, der ihn ansah. Hawkwood hielt dem Blick eine gewisse Zeit lang stand, ehe er die Augen auf einen Punkt hinter Hellards Schulter an der Wand richtete, um ihm das Gefühl zu geben, dass er derjenige war, der nachgegeben und den Blickkontakt abgebrochen hatte.
Sie waren im Wohnzimmer des Commanders, das, wie auf allen anderen Gefängnisschiffen auch, gleichzeitig das Büro war. Zwei Milizionäre bewachten die Tür. Hellard saß hinter dem Schreibtisch, das große, nach innen fallende Heckfenster im Rücken. Vor ihm lag ein aufgeschlagenes Register, daneben etliche Papiere. Über der Marsch ging die Sonne unter und tauchte Land und Flussmündung in rot glühendes Licht. Auf dem Fluss ging es noch immer äußerst lebhaft zu, weil viele Schiffe die frühe Flut am Abend nutzen wollten, um entweder flussaufwärts einen Ankerplatz zu finden oder flussabwärts das offene Meer zu erreichen.