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Lasseur atmete scharf durch.

Diese Reaktion war verständlich. Jeder Gefangene auf der Rapacious hatte schon von der Samson gehört, egal wie lange er an Bord war. Es war ein Schiff, auf das Gefangene kamen, die als Unruhestifter galten. Den Gerüchten zufolge waren die Bedingungen auf der Samson so schlimm, dass die Rapacious dagegen eine Gartenparty war.

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie zusammen mit den anderen aufhängte, Captain?«, sagte Hellard.

Ein süffisantes Lächeln erschien auf Thynnes Gesicht.

Lasseur antwortete nicht. Sein Gesicht war wie versteinert.

»Leider werden Sie nicht sofort verlegt werden können«, sagte Hellard. »Ich habe Nachricht, dass es an Bord der Samson einen Zwischenfall gegeben hat. Einige der Gefangenen haben versucht, mit einem Aufstand gegen ihre Verpflegung zu protestierten. Der Commander gab den Befehl, auf die Demonstranten zu schießen, und eine Anzahl von ihnen wurde getötet. Es wird eine Weile dauern, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Ich bin nicht unmenschlich. Die Gefängniszellen sind alle voll, und es wäre unklug, Sie mit den restlichen von Matisses Gefolgsleuten zusammenzulegen. Deshalb werden Sie zunächst unter Bewachung im Krankenrevier bleiben, wo sich der Arzt wenigstens um Ihre Verletzungen kümmern kann. Ich empfehle, dass Sie diese Gelegenheit zum Nachdenken benutzen. Für Sie, Captain Hooper, bedeutet dieses Debakel natürlich, dass Ihr Antrag auf Hafterleichterung zurückgezogen wurde. Wie ich höre, sollten Sie demnächst eine Anhörung haben. Diese ist nun auf unbestimmte Zeit vertagt und hängt von der Beurteilung Ihres künftigen Verhaltens ab. Ich vermute, es wird lange dauern, ehe einer von Ihnen seine Heimat wiedersieht, wofür Sie sich selbst zu danken haben.« Hellard nickte den Wachen zu. »Das wäre alles. Bringt sie zurück.«

10

»Vielleicht hätten sie uns doch zerlegen und an die Krabben verfüttern sollen«, sagte Lasseur düster.

»Das wäre jedenfalls besser, als an die Rafalés verfüttert zu werden«, sagte Hawkwood. Er fühlte etwas Warmes und Feuchtes an seiner Seite. Seine Wunde hatte wieder angefangen zu nässen.

»Glauben Sie wirklich, was Murat uns erzählt hat?«, fragte Lasseur.

»Schon möglich«, sagte Hawkwood. »Es heißt ja, dass man wahnsinnig wird, wenn man Menschenfleisch isst. Und unter denen hier gibt es wirklich Wahnsinnige.«

Lasseur schwieg. Schließlich sagte er leise: »Vor vielen Jahren, als ich dritter Maat auf einem Schoner im Südchinesischen Meer war, entdeckten wir eines Tages ein treibendes Rettungsboot. An Bord waren vier Männer, von denen drei gerade noch halbwegs am Leben waren. Der vierte war tot. Seine Leiche war ziemlich verstümmelt. Zwei der Überlebenden starben, der dritte erholte sich. Er sagte, dass Seevögel die Leiche des vierten Mannes verstümmelt hatten, aber niemand glaubte ihm. Wir waren sicher, dass er und die anderen von ihm gegessen hatten, um nicht zu verhungern. Warum hatten sie die Leiche sonst nicht gleich über Bord geworfen? Als der letzte Überlebende endlich wieder gehen konnte, band er sich ein Stück Kette um und stürzte sich über Bord. Wir nahmen an, dass er es aus Reue tat, weil er Menschenfleisch gegessen hatte. Entweder das, oder er war tatsächlich wahnsinnig geworden.« Lasseur unterbrach sich, dann murmelte er: »Ich habe gehört, es soll wie Huhn schmecken.«

»Ich habe mir sagen lassen, es schmeckt wie Schweinefleisch«, sagte Hawkwood.

Lasseur schüttelte sich und verfiel in Schweigen. Nach einer Weile sagte er: »Aber wie haben Matisse und seine Männer die Verluste vertuscht? Es müsste doch beim Appell aufgefallen sein, dass jemand fehlte. Wie haben sie es geschafft, dass es beim Zählen niemand bemerkt hat?«

Auch Hawkwood hatte sich das bereits gefragt. Widerwillig sagte er: »Vielleicht wurde es ja bemerkt.«

Lasseur stützte sich auf den Ellbogen. »Wie haben sie es dann erklärt, dass jemand fehlte?«

»Indem sie Hellard und die Wachen in dem Glauben ließen, die Leute seien geflüchtet.« Hawkwood wartete, bis Lasseur die ganze Tragweite dieser Antwort verarbeitet hatte.

Es dauerte etwas, dann sagte Lasseur: »Oh Gott.«

Dieser halbfertige Gedanke hatte Hawkwood beschäftigt, seit sie Hellards Kajüte verlassen hatten. Erst seit er wieder auf seiner Pritsche lag, hatte er ihn zu Ende denken können.

»Wenn es gar keine wirklichen Ausbrüche gegeben hat«, sagte Lasseur, »dann heißt das, dass Murat uns von Anfang an belogen hat.«

Hawkwood antwortete nicht.

»Wenn ich feststellen sollte, dass das wirklich der Fall ist, dann bringe ich diesen falschen Hund um«, sagte Lasseur. Seine Augen blitzten wütend.

»Dann wird man Sie bestimmt aufhängen«, sagte Hawkwood. »Vielleicht sollten Sie versuchen, nicht aufzufallen, solange Sie im Vorteil sind.«

»Zum Teufel noch mal!«, fluchte Lasseur. »Er hat uns für dumm verkauft!«

Der Freibeuter ließ sich verzweifelt zurückfallen.

Konnte das wahr sein?, fragte sich Hawkwood. Vielleicht hatte Ludd es völlig falsch eingeschätzt, und es hatte gar keine Ausbrüche gegeben, sondern nur Auseinandersetzungen, die hier ausgefochten wurden, worauf man die Überreste der Toten über die Latrinen oder die Blechnäpfe der Rafalés entsorgt hatte.

Aber damit konnte man doch sicher nicht alle fehlenden Männer erklären, oder?

Was hatte Matisse gesagt? Dass es schon eine Weile her gewesen sei, seit sie etwas Unterhaltung gehabt hatten. Damit hatte er gemeint, dass seit dem letzten Duell einige Zeit vergangen war. Aber Ludd hatte Hawkwood und Read gesagt, die Ausbrüche seien erst vor ganz kurzer Zeit gewesen. Vielleicht hatten es tatsächlich einige Männer geschafft, vom Schiff zu entkommen, lebend und im Ganzen, statt in Einzelteilen durch die Latrinenöffnungen.

Aber trotzdem mussten die Kopfzahlen noch manipuliert werden. Wie leicht war das? Soweit er gesehen hatte, ließ die Sorgfalt beim Abzählen viel zu wünschen übrig. Die Differenz musste ja nur so lange vertuscht werden, wie der Flüchtende brauchte, um vom Schiff zu kommen und an Land einen guten Vorsprung zu erreichen.

Doch Hawkwood sah ein, dass diese Spekulationen zu nichts führten. Es waren alles nur Theorien. Sein Auftrag war nicht nur ein Scherbenhaufen, sondern er lag mausetot im Wasser. Was man ruhig wörtlich nehmen konnte.

Und wie würde er sich diesmal aus dem Schlamassel befreien? Er musste es Ludd wissen lassen, aber das hatte Hellard fürs Erste unterbunden. Wenn er zu der Verabredung nicht erschien, würde Ludd sicher Erkundigungen einholen. Er würde Hawkwoods Schicksal bald in Erfahrung bringen und versuchen, ihn zurückzuholen. Die Admiralität würde sich einen neuen Weg einfallen lassen müssen, um die Fluchtwege und das Schicksal der beiden anderen Offiziere aufzuklären. Was für ein verdammtes Fiasko! Hawkwood verfluchte seine Dummheit. Plötzlich stellte er fest, dass das Hämmern in seinem Kopf fast ganz aufgehört hatte. Wenigstens etwas, wofür er dankbar sein konnte.

Die anhaltenden harten Hustenanfälle eines Gefangenen etwa sechs Pritschen weiter unterbrachen seine Gedanken. Es verschlimmerte sich, bis es sich anhörte, als würde der Patient gleich alle seine Eingeweide als blutige Brocken ausspucken. Innerhalb von Sekunden hatte sich ihm ein ganzer Chor angeschlossen, dessen krächzendes, rasselndes Husten zu einem wahren Crescendo anschwoll, das von den Schotten widerhallte. Es wurde von grauenhaftem Würgen und Keuchen begleitet. Im Krankenrevier breitete sich der Gestank von Exkrementen und frisch Erbrochenem aus. In der Dunkelheit sah Hawkwood, wie Krankenwärter mit Ledereimern und Lappen zwischen den Pritschen hantierten. Von den Wachen der Miliz war keine Spur zu sehen. Hawkwood vermutete, dass sie sich in die relative Sicherheit von Treppenschacht und Niedergang zurückgezogen hatten.