Leutnant Hellard trat vor, begleitet von Murat. Er hob den Arm, und es wurde still auf dem Deck.
Hellard sprach und Murat übersetzte.
Hawkwood fragte sich, wie viele Nationalitäten es wohl hier an Bord gab. Wer dolmetschte für die anderen?
»Wir verkünden hiermit, dass die Besatzung des Schiffs und seine Gefangenen sich heute hier versammelt haben, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Die Männer, die hier vor Ihnen stehen, haben sich verabscheuungswürdigster Verbrechen schuldig gemacht. Auf Befehl der Admiralität Seiner Majestät von Großbritannien wird jeder dieser Männer zum Tode verurteilt, wozu er am Hals aufgehängt wird, bis er tot ist. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«
Abrupt, als sei ihm die Kürze der Ansprache peinlich, trat Hellard zurück und nickte den Mitgliedern des Gefangenentribunals zu.
Der Arzt hatte Recht gehabt!, Dachte Hawkwood.
Er sah, wie zwölf Männer in gelber Gefangenenkluft vortraten. Sie teilten sich in drei Teams zu je vier Mann. Jedes Team löste eins der Seile von den Klampen am Schanzkleid. Dann drehten sie den verurteilten Männern den Rücken zu und standen bereit, jeder von ihnen hatte ein Stück des Seils auf der rechten Schulter.
»Fahren Sie fort, Sergeant Hook«, sagte Hellard.
Der Sergeant nickte zwei Wachen der Miliz zu, einer von ihnen zielte mit der Muskete in die Luft. Die Männer an den Seilen zogen an. Die Wachen, die die Verurteilten begleitet hatten, traten weg.
Hawkwood ballte die Fäuste. Die Wache schoss in die Luft.
Im selben Augenblick stürmten die Männer mit den Seilen so schnell sie konnten in Richtung des Hecks. Hinter ihnen schossen drei vermummte Gestalten an der Rahe in die Luft. Das Echo des Schusses war noch nicht verklungen, da wurden die Enden der straff gespannten Seile auch schon fest gemacht. Erst jetzt sahen sich die Mitglieder der Teams ihre Arbeit an. Hoch über ihnen, und sich vom Schwung des Hochziehens immer noch drehend, hingen die drei Leichen von der Rahe wie groteske Schmuckstücke.
Die Teams wandten sich den Seilen auf Steuerbord zu. Auch hier traten die Wachen zur Seite.
Ein erneutes Nicken von Hood, und auch der zweite Milizionär schoss. Die Henker stürmten abermals vorwärts. Drei weitere Körper stiegen schnell in die warme Morgenluft.
Ein Seufzer lief über das Deck wie ein Windhauch.
Einer der Milizionäre fluchte, als ein Schauer von Urin und Kot von einer der leise pendelnden Leichen ihn nur knapp verfehlte und zu seinen Füßen aufs Deck klatschte. Seine Kollegen sahen hoch und sprangen schnell zurück, um der Flut von Fäkalien auszuweichen, die von oben kam, als sich die Schließmuskeln der Erhängten langsam entspannten. Ein Lachen lief durch die Reihen der Gefangenen. Langsam löste sich die allgemeine Spannung.
»Ruhe!«, brüllte Hook.
»Ein Arzt sagte mir mal, es sei ein schneller Tod.« Lasseur starrte auf die Leichen.
Hawkwood antwortete nicht. Er wusste es. Die Tatsache, dass keines der Opfer die Beine mehr bewegt hatte, nachdem sie den Boden verlassen hatten, bestätigte die Aussage des unbekannten Arztes. Der Tod war eingetreten, sowie die Seile straff gezogen waren, nämlich durch Genickbruch und nicht durch langsames Ersticken. Er sah seine Hände an, in seinen Handflächen waren rote Flecken, dort wo seine Fingernägel sich eingegraben hatten.
Er hörte, wie Lasseur leise vor sich hin fluchte, und als er sich umdrehte, sah ihn der Privateer mit verlegenem Gesicht an. Lasseur öffnete den Mund und wollte etwas sagen.
»Ist schon in Ordnung, Captain«, sagte Hawkwood. »Es ist schon sehr lange her.«
Einen Augenblick sah es aus, als wolle Lasseur etwas antworten. Seine Augen wanderten von Hawkwoods Hals zu den Striemen an seinen Händen, dann nickte er stumm.
Hawkwood wandte sich um und sah zum Quarterdeck, wo Hellard und Murat sich mit dem Gefangenentribunal besprachen, während über ihnen die sechs Leichen, die Beine nass und fleckig von ihren Exkrementen, weiterhin sanft in der Morgenbrise schwangen. Seine Augen wanderten übers Wasser zu den anderen Schiffen. Überall war die Reling schwarz von Menschen, Gefangene und Mannschaften, aller Augen waren auf die Rapacious gerichtet. Hawkwood fragte sich, wie lange es gedauert hatte, bis die Nachricht von der bevorstehenden Hinrichtung sich im Gebiet der Flussmündung herumgesprochen hatte. Bestimmt nicht lange, wenn die Buschtrommeln der Navy so effizient waren wie die des restlichen Militärs, die er kennengelernt hatte.
Langsam verliefen sich die Gefangenen. Die Stimmung war gedämpft. Es schien, als werde allen die Bedeutung dessen, was geschehen war, erst jetzt richtig bewusst. Viele düstere Blicke wanderten hinauf zur Rahe. Hawkwood kannte das. Die kollektive Euphorie, mit der die Hinrichtung begrüßt worden war, wich jetzt einem gewissen Zweifel und der allmählichen Erkenntnis, dass durch das Mitwirken des Gefangenentribunals praktisch jeder Gefangene an Bord den Feind unterstützt hatte.
Hawkwood hatte auch gemerkt, dass seine und Lasseurs Anwesenheit an Deck mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Sie zogen die Blicke auf sich, teilweise heimlich, bei manchen ganz offen; einige voller Respekt, andere vorsichtig, und langsam wurden die Wachen des Krankenreviers nervös und bestanden darauf, Hawkwood wieder unter Deck zu bringen.
Er warf einen Blick aufs Quarterdeck. Das wurde gerade geschrubbt, die Milizionäre hatten die Seile gelöst und ließen die Leichen herab. Hawkwood wusste, dass es eigentlich Tradition war, die Leichen von Gehängten ein paar Stunden als Warnung hängen zu lassen. Er vermutete, dass Hellard diese Toten herunterbringen ließ, entweder als Geste dem Tribunal gegenüber, oder was wahrscheinlicher war, weil der Geruch der Leichen in der Hitze nur schwer zu ertragen gewesen wäre.
Der Arzt Girard war auch dabei zugegen. Hawkwood nahm an, dass er den Tod feststellen musste; obwohl daran eigentlich kein Zweifel bestand. Denn wenn es eine Fertigkeit gab, in der die Navy es zur Meisterschaft gebracht hatte, dann war es das Knüpfen von Knoten.
Hawkwood und Lasseur kehrten auf ihre Pritschen zurück. Selbst mit dem Geruch des Verfalls, der aus jeder Pore dieser Abteilung drang, war es nach dem überfüllten Oberdeck eine Erholung, wieder im Krankenrevier zu sein.
»Was glauben Sie, wann wir verlegt werden?« Lasseur sah nachdenklich aus.
Hawkwood zuckte die Schultern und sah nach hinten zu den Wachen, die ihre alte Position bei der Luke wieder eingenommen hatten. »Könnte jederzeit passieren. Ich würde vermuten, sobald der Commander die Genehmigung bekommt. Vor der Hinrichtung war nicht damit zu rechnen. Da sollten wir auf jeden Fall dabei sein. Hellard und die Admiralität würden keine Gelegenheit verpassen, die Gefangenen auf der Samson durch uns warnen zu lassen, was passiert, wenn sie aufmüpfig werden. Mich würde es gar nicht wundern, wenn die Arschlöcher uns nur deshalb geschont haben, damit wir die gute Nachricht verbreiten und alle Aufrührer das Fürchten lehren.«
Lasseur sah Hawkwood von der Seite an. »Hat man Ihnen schon jemals gesagt, mein Freund, dass Sie ein sehr misstrauischer Mensch sind?«
»Das sagt man mir ständig«, erwiderte Hawkwood. »Es ist wie ein Fluch.«
Lasseur zwang sich zu einem Grinsen, strich sich über den Spitzbart und legte den Arm über die Augen.
Merkwürdig, dachte Hawkwood, wie einfach es war, sich mit dem Schicksal der Gefangenen zu identifizieren und wie schnell die Admiralität zum Feindbild geworden war.
Seine Gedanken wurden unterbrochen von dem Tritt schwerer Stiefel und einem Schwall von Obszönitäten. Zwei Gefangene kamen gerade die letzte Stufe der Treppe herunter. Sie schleppten eine Leiche, schwer und unhandlich. Lasseur entfuhr ein Schreckenslaut. Die Gehängten, die vorhin von der Rahe genommen worden waren, wurden heruntergebracht.