Hawkwood und Lasseur sahen, wie die Toten nacheinander den Krankenwärtern übergeben wurden. Unter denen, die sich als Leichenträger betätigen mussten, waren auch Millet und Charbonneau. Sie fingen Hawkwoods Blick auf und nickten ihm kaum wahrnehmbar zu. Am Schluss kam Girard, der Arzt.
Hawkwood überlegte, wer wohl die brillante Idee gehabt hatte, dass die Gefangenen eine so aktive Rolle bei der Vollstreckung des Todesurteils spielen sollten. Wenn es Hellard gewesen war, dann war es ein genialer Schachzug. Matisse und seine Römer hatten einen Einschüchterungskrieg gegen ihre Mitgefangenen geführt. Wenn Hellard es geschafft hatte, den Hass, den alle Gefangenen dem Korsen und seinen Mitläufern entgegenbrachten, auf geschickte Art und Weise dem Tribunal zu vermitteln, dann hatte er nicht nur auf einen Streich die Hierarchie der Gefangenen an Bord respektiert, sondern er war auch - wenigstens zum Teil - entlastet von der Alleinschuld an dieser drakonischen Bestrafung fremder Staatsangehöriger.
Es war schwer vorstellbar, dass die Admiralität die Mitwirkung von Gefangenen gutgeheißen hätte, möglicherweise hätte sie sogar die Hinrichtungen gar nicht genehmigt, besonders an Bord eines Schiffes - jedenfalls nicht offiziell. Darüber, was inoffiziell geschehen wäre, konnte man nur spekulieren. Hawkwood hatte den Verdacht, dass auch die Admiralität, genau wie das Militär, die Politiker und die Justiz, sich ziemlich drastischer Methoden bedienen konnte, wenn es ihren Zwecken diente. Die Einbindung des Gefangenentribunals hatte der Verurteilung und Exekution einen Anstrich von Legitimation verliehen. Und wenn es Konsequenzen geben sollte, konnte die Admiralität die Sache immer noch voll und ganz auf Hellards ohnehin schon besudeltes Konto schieben und behaupten, er habe eigenmächtig gehandelt.
Was Hellard anbetraf, so konnte man es so auslegen, dass er seine Autorität ausgeübt hatte, sowohl den Gefangenen als auch seinen Vorgesetzten gegenüber wie auch im eigenen Haus, insbesondere was Leutnant Thynne und die restliche Schiffsbesatzung betraf. Durch die Hinrichtung hatte Hellard sich den Ruf eines Mannes erworben, mit dem nicht zu spaßen ist. Vielleicht hatte er es auf irgendeine bizarre Art sogar für einen Weg gehalten, um seinen angeknacksten Ruf bei der Admiralität wieder zu reparieren.
Lasseur brummelte etwas und Hawkwood sah hoch. Eine bekannte Gestalt kam auf sie zugehinkt und hielt zwei Rucksäcke hoch.
»Ich habe die Erlaubnis, Ihnen die zu bringen. Ich dachte, Sie können sie vielleicht brauchen«, sagte Fouchet. »Und hungern sollen Sie auch nicht.« Er gab ihnen die Rucksäcke und fing an, in seinen Taschen zu wühlen.
»Bitte, sagen Sie nicht, dass es wieder Schweinefleisch ist«, bat Lasseur.
»Frühstück - das Übliche. Aber essen Sie nicht alles auf einmal.«
Hawkwood sah den trockenen Brotkanten an, den Fouchet ihm in die Hand gedrückt hatte. Damit konnte man den Hunger eine Weile überbrücken.
»Sie hätten eine großartige Frau für jemanden abgegeben, Sébastien«, witzelte Lasseur.
Fouchet lachte leise. »Irgendjemand muss sich ja um Sie kümmern.« Plötzlich war das Lächeln wie weggeblasen. »Denken Sie daran, was ich gesagt habe; vielleicht heben Sie es besser für später auf.«
Lasseur erstarrte, gerade als er das Brot in den Mund stecken wollte.
»Haben Sie gehört, wann wir verlegt werden?« Hawkwood langte in den Rucksack und holte sein einziges Ersatzhemd heraus. Es war nicht viel sauberer als das, welches der Arzt ihm vom Leib geschnitten hatte. Er zog es an, wobei er darauf achten musste, dass seine Verbände nicht verrutschten.
Der Lehrer drehte sich um und spähte nach achtern in den Raum, wo die Krankenwärter die Leichen der erhängten Männer in Säcke aus Segeltuch einnähten und wo Millet und die anderen auf weitere Anweisungen warteten, wobei die Milizionäre sie gelangweilt beobachteten.
Während Hawkwood und Lasseur dem Blick des Lehrers folgten, erschienen zwei weitere Männer am unteren Ende der Treppe. Einer trug die Uniform der Miliz; beim Anblick des anderen verfinsterte sich Lasseurs Gesicht. Es war Murat, der Dolmetscher.
Die Wache deutete mit dem Kopf auf die Krankenwärter. »Sag diesen Scheißkerlen, dass das Leichenboot hier ist und dass Leutnant Hellard die Toten so schnell wie möglich vom Schiff haben will. Dieser verdammte Pott stinkt auch so schon schlimm genug.« Er verzog das Gesicht bei dem Geruch im Krankenrevier, und mit einem mitleidigen Blick auf seine beiden Kollegen verschwand er die Treppe hinauf.
Murat gab die Information auf Französisch an die Krankenwärter und die wartenden Männer weiter. »Ihr könnt anfangen, sie hochzutragen.«
Hawkwood, Lasseur und Fouchet sahen, wie der erste Leichensack am Kopf- und Fußende aufgehoben und zur Treppe getragen wurde. Es war ein schwieriges Unterfangen. Die beiden Träger gingen tief gebeugt, teils wegen des Gewichts und teils weil der Raum so niedrig war und sie zudem kaum Platz hatten, sich zu bewegen. Von Pietät war nicht viel zu merken. Die Männer fluchten genau so lautstark wie vorhin, als sie die Toten zum Einnähen heruntergebracht hatten.
Während die ersten Leichen unter Aufsicht von Murat und dem Arzt die Treppe hochgetragen wurden, fuhren die Krankenwärter fort, die restlichen Säcke zuzunähen.
Hawkwood sah zu und fragte sich, wie oft der Arzt diese Arbeit wohl schon gemacht hatte.
Als das siebente oder achte Bündel nach oben gehievt wurde, passierte das Malheur. Es krachte, dann folgte ein erschreckter Schrei, gefolgt von einem lauten Poltern und einer wahren Flut von Flüchen, als der Mann am Kopfende des Leichensacks auf der Treppe ausrutschte und losließ. Während Mann und Leiche die Treppe hinunterrutschten und mit den beiden kollidierten, die hinter ihnen gingen, rutschte auch der zweite Leichensack seinen Trägern aus den Händen. In wenigen Sekunden war die Treppe ein einziges Durcheinander von rutschenden Körpern, teils tot, teils lebendig.
Aufgeschreckt von dem Lärm drehten sich beide Wachen um. Man hörte wüste Beschimpfungen darüber, welcher Idiot denn hier nicht aufgepasst hatte, und schließlich beschlossen die Milizionäre, auf der Treppe wieder Ordnung zu schaffen.
Sowie die Wachen durch diese Aufgabe abgelenkt waren, ergriff Fouchet Lasseurs Ärmel. »Kommen Sie schnell mit«, zischte er. »Lassen Sie Ihre Rucksäcke hier.« Er griff nach oben und löschte die Laterne aus, die über ihnen hing.
Instinktiv blickte Hawkwood auf das Durcheinander. Eine weitere Laterne wurde gelöscht, aber es war noch hell genug, um zwei Männer zu erkennen - beides Gefangene -, die eilig zwischen den Pritschen auf sie zukamen; es waren Millet und Charbonneau. Jeder von ihnen trug einen Toten über der Schulter.
Hawkwood stand auf. »Los geht’s, kommen Sie«, sagte er zu Lasseur und griff nach seiner Jacke.
Lasseur sah an Hawkwood vorbei nach achtern, wo ein dritter Mann beim Niedergang stand. Es war Murat, der ihnen signalisierte, sich zu beeilen.
Die Wachen waren noch immer mit den anderen beschäftigt.
Lasseur sprang auf. Gebückt duckte er sich zwischen den Deckenbalken hindurch und fast stolpernd vor Eile folgte er Hawkwood und Fouchet nach achtern in die Kammer.
Hawkwood wusste, so sicher wie zwei mal zwei vier ist, dass die Wachen sich gleich wieder umdrehen würden. Er war noch immer mit diesem Gedanken beschäftigt, als er geduckt an der Luke vorbeihuschte und erleichtert feststellte, dass er es geschafft hatte. Er drehte sich um und sah, wie Millet und Charbonneau die Toten auf die leeren Pritschen legten und sorgfältig zudeckten. Dann schob Murat sie dorthin, wo die beiden halbfertigen, blutverschmierten Kokons aus Segeltuch nebeneinander auf dem Boden lagen.
Er deutete darauf. »Kriechen Sie rein. Hände auf dem Bauch falten. Und ganz still liegen. Schnell!«