Die Geräusche des Schiffes waren überalclass="underline" das Rattern der Laufräder in ihren Blöcken, das Klopfen der Leinen gegen die Rahe, Stimmen, die sich in den verschiedensten Tönen und Lautstärken unterhielten, Möwen, die vom Flaggenknopf herab protestierten, das Trampeln von Militärstiefeln auf Deck.
Er fragte sich, ob der Körper neben ihm Lasseur war. Trotz seiner Bemühungen, gleichmäßig zu atmen, klopfte sein Herz wie wild, während er auf den Alarm wartete, der losbrechen würde, sobald man sein Verschwinden entdeckt hatte. Wie lange würde es Murat, dem Arzt und den Krankenwärtern gelingen, ihre Abwesenheit zu vertuschen?
Wieder erklang ein Ruf. Der Sack neben ihm bewegte sich.
Hawkwood stockte der Atem.
War es Lasseur, der einen Krampf bekommen hatte, oder eine misstrauische Wache, die kontrollierte? Dann rollte etwas gegen sein anderes Bein. Er hörte das Rasseln der Winsch und wusste, das Netz wurde wieder hochgezogen. Die Bewegung war wohl nur ein Ergebnis der Schwerkraft gewesen. Eine Erinnerung kam ihm: Makrelen im Netz, Köpfe und Schwänze durcheinander, und er überlegte, ob ein Netz voller Leichensäcke für Zuschauer wohl ähnlich aussah.
Murat hatte nicht nur wegen des Gestanks Recht gehabt. Hawkwood wusste, es konnte nicht mehr als zehn Minuten her sein, seit sie eingenäht worden waren, und dennoch schien es eine Ewigkeit her. Mit jeder weiteren Minute waren seine Nerven stärker angespannt. Abermals nahm er eine Bewegung des Netzes wahr. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass gleich etwas passieren würde. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich seelisch darauf vorzubereiten. Das Netz landete mit Schwung, es war eher eine Kollision als ein Aufsetzen - der Mann an der Winsch hatte keinen Funken Mitgefühl für die Toten - und aus der Bewegung unter ihm wusste er, dass sie in die Ducht gepackt worden waren. Er spürte, wie das Boot schaukelte, als die Totengräber und die Wachen einstiegen und ihre Plätze einnahmen. Dann kam der Befehl zum Ablegen, und dann das unverwechselbare Geräusch der Ruder, die sich in den Rudergabeln drehten, als das Boot langsam von der Seite des Schiffs wegmanövrierte.
Es war warm im Sack und das Quietschen der Ruder und das sanfte Schaukeln des Bootes übten eine Art Hypnose auf ihn aus. Hawkwood war sich nicht nur des Gestanks in seinem eigenen Leichensack bewusst, sondern auch aller anderen um ihn, alle verdreckt mit entweder Blut, Kot oder Pisse, und manche von ihnen mit allem gleichzeitig. Der Gestank würde sich noch verschlimmern, wenn die Sonne höher stand, deshalb wollte Hellard die Leichen von Bord haben. Es war ohnehin schon schwer genug, ein gewisses Maß an Hygiene aufrechtzuhalten. Die Zustände wären unhaltbar geworden, besonders im Krankenrevier, wenn die Leichen noch länger an Bord geblieben wären.
Hawkwood wusste, dass sie nicht mehr weit vom Ziel waren, als er den Befehl vernahm, die Ruder einzuziehen. Eine kurze Stille, dann ein Zittern, als der Kiel des Bootes knirschend aufsetzte, bestätigten die Vermutung.
Als Hawkwood aufs Vorland hinaufgetragen wurde, hörte er jemanden graben. Ein starker, atemberaubender Gestank drang in den Sack, je näher sie den Spatengeräuschen kamen, es war so schlimm, dass es sogar seinen eigenen Gestank überdeckte. Hawkwood wusste, was es war. Er hatte es schon oft gerochen, im Feldlazarett und in den Leichenhallen von Krankenhäusern. Es war der Gestank verwesender Leichen. Er lag auf der Erde, Kieselsteine im Rücken, die Nase gegen das übel riechende Segeltuch gedrückt, und musste seine ganze Willenskraft zusammen nehmen, um sich nicht durch Würgegeräusche zu verraten.
»Also los, schmeißt die Miststücke rein!«
Der Befehl war aus einiger Entfernung gekommen. Er vermutete, dass die Wachen in einiger Entfernung vom Massengrab gegen den Wind standen.
Eine Stimme kam dicht an sein Ohr und Charbonneau flüsterte: »Nicht mehr lange, Captain. Es ist gleich vorbei.«
Wieder schoben sich Hände unter seine Schultern und zerrten ihn über den Schlick. Er fühlte, wie sein Schulterblatt über einen scharfen Stein schrammte, dann ging es steil nach unten. Er landete auf etwas, das sich wie ein Holzhaufen anfühlte, zumindest den Höckern und Unebenheiten nach zu urteilen, aus denen gelegentlich etwas Spitzes ragte. Der Gestank nach verwesenden Leichen war plötzlich noch viel schlimmer als bisher.
Er hörte, wie ein Spaten in den Boden gestoßen wurde. Hawkwood schnappte nach Luft, als die erste Schaufel voll Erde und Kieselsteinen auf seinen Beinen landete. Sein Herz stolperte, als die zweite Ladung auf seine Brust fiel. Die Erde war feucht und schwer. Er versuchte, seine Arme zu bewegen, wurde aber durch eine weitere Ladung Steine verhindert, die von außen auf das Segeltuch prasselten wie Regen auf ein Zelt.
Er hörte eine leise Stimme. »Leben Sie wohl, Captain.«
Dann wurde sein Gesicht mit Erde bedeckt, und die Welt wurde dunkel.
11
Hawkwood löste seine Hände und streckte den rechten Arm aus. Er bewegte seine Finger und versuchte, die Knie anzuziehen und war unglaublich erleichtert, als er feststellte, dass ihm beides gelang, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten. Er konnte seine Knie nicht sehr stark beugen, aber er wusste, dass er wahrscheinlich genug Spielraum hatte, um sich trotz des Gewichts der Erde zu befreien.
Durch das Segeltuch hindurch konnte er noch immer winzige Lichtpunkte wahrnehmen, ein Zeichen dafür, dass das Massengrab nur sehr oberflächlich und absichtlich flüchtig gefüllt worden war, wobei man gerade genug Erde über die frisch hinzugefügten Leichensäcke geworfen hatte, um die Milizionäre zu täuschen.
Er hörte keine Stimmen mehr. Sie hatten sich entfernt, als der Bestattungstrupp zum Boot zurückgegangen war. Er hörte in der Ferne Seevögel und am Strand das Plätschern der Wellen. Er hörte auch Schafe blöken. Auch dieses Geräusch war den Gefangenen vertraut, denn wenn der Wind von der Marsch herüberwehte, hörte man das schwermütige Klagen der Tiere bis aufs Schiff.
Er zog das rechte Knie an, streckte den rechten Arm aus und schob die geöffnete Hand ganz langsam an seinem Oberschenkel hinab. Es ging nicht so leicht, wie er erwartet hatte. Im Sack war nicht genug Platz, um ihm in Rückenlage den Spielraum zu geben, den er brauchte. Er wartete einen Augenblick. Dann holte er tief Luft und drehte sich auf die linke Seite, wobei sich die Leiche unter ihm bewegte. Ein Schwall fauler Luft traf ihn. Er schluckte den sauren Geschmack in seiner Kehle hinunter und versuchte wieder, sich zu bewegen. Diesmal schaffte er es fast. Seine Fingerspitzen schoben sich an seinem Knie vorbei. Er bog seine Schultern nach vorn und langte wieder nach unten. Seine Schultermuskeln reagierten mit schmerzhaftem Protest, aber endlich gelang es ihm, mit Daumen und Zeigefinger das Messer aus seinem Stiefelschaft zu ziehen.
Keuchend ruhte er sich aus und wartete, bis seine Schulter sich beruhigt hatte. Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und zog den Arm hoch. Das Messer war weniger als eine Handbreit entfernt, als er die rasiermesserscharfe Klinge in die Naht über seinem Gesicht steckte und anfing zu schneiden.
Er war beim zweiten Stich, als er ein Geräusch bemerkte, das er vorher nicht gehört hatte. Seine Haut prickelte. Langsam zog er das Messer zurück.
Wieder hörte er das Geräusch, es klang, als ob sich jemand vorsichtig näherte. Hawkwood erstarrte. Er hörte ein leises Kratzen, dann wieder Stille. Dann war ihm, als ob er Stimmen hörte, doch er konnte nichts verstehen. Es musste die Miliz sein. Sie waren zurückgekommen, um nachzusehen. Offenbar versuchten sie, so leise wie möglich zu sein, aber es gelang ihnen nicht ganz. Vorsichtig drehte Hawkwood das Messer um und hielt es flach vor die Brust, den Arm darüber. Wieder hörte er das Kratzen. Plötzlich verdunkelte sich das Licht, das durch den Stoff gedrungen war. Eine Gestalt kniete über ihm. Ohne Vorwarnung kam eine Messerklinge, größer als seine eigene, durch den Spalt im Stoff, nur wenige Zoll von seinem Gesicht entfernt. Sie trennte mühelos die Stiche auf und die Ränder des Segeltuches wurden auseinander gezogen.