Lasseur sah zu, wie Hawkwood seinen Verband abwickelte. Er zögerte etwas, ehe er sagte: »Im Laderaum, ehe du dem Mamelucken das Genick gebrochen hast … als du dich weggedreht hast, da wusstest du doch, dass er angreifen würde, oder?«
Hawkwood antwortete nicht gleich. Beim Schein der Laterne sah er seine Wunde an. Entgegen seiner Befürchtung hatte sich der Schnitt in seiner Seite nicht wieder geöffnet, Girards Naht war noch intakt. Er wickelte sich die frische Binde um den Bauch. »Ich hielt es für wahrscheinlich.«
Lasseur runzelte die Stirn. »Das klingt ja, als wolltest du ihn auffordern, anzugreifen.«
Hawkwood zuckte die Schultern. »Du denkst, wenn ich mit gebrochenem Arm auf den Knien gelegen hätte, hätte er nicht so schnell Schluss gemacht? Er hätte es sich nicht zweimal überlegt.«
»Willst du damit sagen, dass du ihm eine Chance geben wolltest?«
Hawkwood schüttelte den Kopf. »Die hatte er nie.«
Lasseurs Augen zogen sich zusammen, dann riss er sie auf und entsetzt stellte er fest: »Mein Gott, also war es deine volle Absicht! Du hast ihn in die Falle gelockt! Du hast ihn umgebracht, um Eindruck zu machen. Du hast mit ihm gespielt.«
Hawkwood sicherte das Ende seines Verbands, indem er es unter den Rand stopfte.
Lasseur sah unglücklich aus. Betrübt schüttelte er den Kopf. »Um dich ist etwas Dunkles, mein Freund. Ich sah es damals in deinen Augen, als du gekämpft hast. Und jetzt sehe ich es wieder. Es macht mich traurig, aber ich bin ja froh, dass wir wenigstens auf derselben Seite kämpfen.«
Hawkwood knöpfte sein Hemd zu. »Man nutzt beim Gegner die Chance, die man hat. Vielleicht bekommt man nur die eine. Und in neun von zehn Fällen ist das Ergebnis kein schöner Anblick.«
Lasseur neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Vor vielen Jahren war ich mal mit einem Malaien auf einem Schiff, der mit einem anderen Mitglied der Mannschaft, einem Sizilianer, in Streit geraten war. Der Sizilianer hatte ein Messer, und dennoch entwaffnete ihn der Malaie mit bloßen Händen. Es war eines der merkwürdigsten Dinge, die ich je gesehen habe. Der Malaie bewegte sich, als ob er tanzte. Oder wie fließendes Wasser. Und etwas davon war auch in der Art und Weise, wie du dem Mamelucken den Arm gebrochen hast, nachdem du das Rasiermesser verloren hattest. Es schien, als hättest du gewusst, was du tun würdest, noch ehe dein Schlag ihn traf. Wo hast du diese Technik gelernt? Oder habe ich mir das nur eingebildet?«
Hawkwood spülte sich mit dem Rest des Wassers aus dem Kessel die Hände ab. »Ich kannte mal einen Soldaten. Er war viel im Osten gereist und verkaufte seine Dienste an jede Armee, die ihn bezahlte. Da gab es einen Nabob, für den er kämpfte, einen Prinzen aus dem Reich der Moguln, mit einem chinesischen Leibwächter. Der Soldat erzählte, der Chinese sei eine Art Priester gewesen. Es hatte angeblich mal einen Aufstand gegeben, bei dem die Priester sich weder mit Schwertern noch mit Messern bewaffnen durften. Also lernten sie, wie man sich Waffen aus Handwerkszeug herstellt, und sie lernten, mit Händen und Füßen zu kämpfen. Er sagte, man müsse jahrelang trainieren. Er hatte ein paar Tricks von diesem Leibwächter gelernt, und er brachte sie mir bei. Aber sie funktionieren nicht immer. Ich benutze lieber eine Pistole.«
Oder ein Gewehr, dachte Hawkwood.
Der Soldat, von dem er erzählt hatte, war in Wirklichkeit ein portugiesischer Guerillero namens Rodriguez gewesen, ein kleiner, drahtiger Mann, der aussah, als ob ein starker Windstoß ihn umwerfen könne. Hawkwood hatte ihm beigebracht, mit einer Bakerflinte zu schießen. Im Gegenzug hatte Rodriguez Hawkwood gezeigt, wie man sich unbewaffnet gegen Schwert- und Messerattacken verteidigt. Der Guerillero hatte Hawkwood schnell klargemacht, dass diese Technik nicht immer Erfolg hat. Wenn man im Zweifel ist und eine Pistole besitzt, sollte man sie benutzen. Sie ist wesentlich effektiver.
»Diese Leute, die den Branntwein und Tabak bringen«, sagte Lasseur, »glaubst du, die bringen uns bis nach Frankreich?«
Hawkwood dachte darüber nach. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie uns aufs Festland bringen und dort über Land zu einem ihrer Häfen an der Südküste, von dort nach Ostende oder Vlissingen. Aber das werden wir bald wissen.«
Als sei ein Stichwort gefallen, ging die Kellertür auf. Isaac kam herein. »Es geht los«, sagte er aufgeräumt. »Abraham hat eben Nachricht erhalten. Das Boot ist auf dem Weg hierher.«
Sie verließen den Keller und stiegen hinauf in den Schankraum, wo sie feststellten, dass sie Gesellschaft bekommen hatten. Hawkwood zählte wenigstens fünfzehn Männer; sie waren alle dunkel gekleidet und saßen um Tische herum, auf denen Kerzen standen. Sie sahen kurz auf, aber niemand sagte etwas. Hawkwood kannte diese Typen. Die Slums von London wimmelten davon: harte Männer, die keinem Gesetz verpflichtet waren, loyal gegen ihresgleichen, aber sofort misstrauisch gegenüber jedem Fremden, der sich unaufgefordert in ihre Angelegenheiten einmischte.
Abraham, jetzt ohne seine Schürze, kam aus einer Tür hinter dem Tresen herein und steckte sich eine Pistole in den Gürtel. »Also los, gehen wir.« Er ging zu einem der Tische und nahm eine Laterne, die noch nicht angezündet war. Drei ihrer Seiten waren abgeklebt.
Der Wirt sah zu Hawkwood und Lasseur. »Bleibt dicht hinter uns und seid leise. Sowie wir alles an Land haben, könnt ihr ins Boot steigen.«
Die Männer an den Tischen standen auf. Als Hawkwood ihnen nach draußen folgte, sah er, dass sie gut bewaffnet waren. Jeder von ihnen hatte eine Pistole im Gürtel, einige von ihnen hatten Holzkeulen. Auf Brust und Schultern trugen sie etwas Merkwürdiges, das wie ein Ledergeschirr aussah.
Unten im Keller war Hawkwood jegliches Zeitgefühl verlorengegangen, und obwohl Isaac sie darauf vorbereitet hatte, dass es dunkel war, war es doch ein seltsames Gefühl, bei Nacht hier im Freien herumzulaufen.
Sie gingen hintereinander, und Abraham führte sie an der Kirche vorbei ans Ende des Dorfes. Isaac hatte von einer Hauptstraße gesprochen. Wieder einmal war diese Bezeichnung völlig übertrieben. Der Haymarket und der Strand in London waren Hauptstraßen. Aber die Hauptverkehrsader von Warden war ein Weg, der durch eine Reihe dunkler Cottages, durch Baumgruppen und Brombeergestrüpp führte. Außer den Männern aus dem Pub gab es hier draußen kein Lebenszeichen anderer Bewohner.
Am Rande der Klippe bot sich ihnen ein außergewöhnlicher Anblick. Es war, als stünde man am Rand der Welt. Im Norden glitzerten vereinzelte Lichtpunkte entlang der dunklen Küste, man hätte sie sogar für Sterne halten können, wenn sie etwas höher gestanden hätten. Hawkwood versuchte, sich an seine Geografiekenntnisse zu erinnern und kam zu dem Schluss, dass dies Foulness sein müsse. Weiter westlich, aber nicht so weit entfernt, schaukelte Nore Ligh, ein Lichtpunkt, der in der Themsemündung verankert war. Hawkwood betrachtete das Panorama um sich her. Bis zum Horizont waren die Lichter an den Mastspitzen und auf den Decks der Schiffe verstreut, sie leuchteten über dem Wasser wie winzige Glühwürmchen. Auf dem Festland im Süden waren ein paar hellere Lichter. Eine Ansammlung ließ auf ein größeres Wohngebiet schließen. Hawkwood nahm an, dass es sich wahrscheinlich um Whitstable handelte, das sechs Meilen entfernt auf der anderen Seite der Bucht lag.
»Da!«, flüsterte ein Mann, den Arm ausgestreckt.
Hawkwood hatte es zur gleichen Zeit bemerkt. Eine halbe Sekunde später, und man hätte es verpasst. Es war ein heller, blauer Pulverblitz. Hawkwood erkannte es, er selbst hatte im Felde auf gleiche Art Signale gesandt und hatte dazu eine Steinschlosspistole ohne Lauf verwendet. Wenn man das Pulver auf die Pfanne schüttete und den Abzug betätigte, gab es dieses grellblaue Licht - weit sichtbar, wenn man wusste, wonach man Ausschau hielt.