Hawkwood blickte konzentriert in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war, und bald sah er etwas Dunkles auf den Strand zuhalten. Dahinter, weiter draußen, glaubte er einen weiteren, größeren Schatten zu sehen, aber da er nicht beleuchtet war, konnte er nicht sicher sein, ob es ein Schiff war oder nicht. Es konnte sich genausogut um eine optische Täuschung oder das Spiel der Wellen handeln, obwohl der Seegang nicht stark war.
Schnell hob Abraham die Laterne hoch. Er drehte die offene Seite in die Richtung, aus der der Pulverblitz gekommen war und zündete die Kerze an. Als Antwort kam ein weiterer blauer Blitz.
Schnell löschte er die Laterne wieder. »Gehen wir.«
Im Mondlicht führte der Wirt sie den Klippenweg hinab. Er war steil und stellenweise rutschig von losem Geröll. Drei Minuten später waren sie am Strand. Der Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Die Wellen, die leise an den Strand schwappten, klangen wie entfernter Applaus.
Die Männer blieben stehen und horchten. Aus der Dunkelheit hinter der Brandung hörte man rhythmisches Rudern. Hawkwood sah es silbern blitzen, wenn ein Ruderblatt ins Wasser tauchte. Plötzlich verstummte das Geräusch. Die Männer am Strand traten zurück, als das Boot auf sie zuschoss. Die Ruderer waren schon aus dem Boot gesprungen, noch ehe es richtig aufgesetzt hatte. Man begrüßte sich flüsternd und fing an auszuladen.
Die Männer arbeiteten lautlos. Auf ihren angespannten Gesichtern lag das Mondlicht. Hawkwood und Lasseur standen in einiger Entfernung weiter oben am Strand, um nicht im Wege zu sein, und sahen zu, wie die Fässer aus dem Boot gehoben und auf den Kies gestellt wurden. Der Grund für das Ledergeschirr, das die Männer trugen, wurde ihnen bald klar: Es diente zum Tragen der Fässer, eines wurde auf die Brust, ein zweites auf den Rücken gehängt. Hawkwood war beeindruckt von dem Gewicht, das jeder von ihnen tragen konnte; es konnte nicht viel weniger als hundert Pfund sein. Es musste Schwerarbeit für Beine und Lunge sein, die Schmuggelware zum Pub hinaufzutragen.
Sowie die Fässer an den Geschirren befestigt waren, machten sich die Männer auf den Weg über den Kies und den Klippenpfad hinauf. Es dauerte eine Weile, bis die Fässer ausgeladen und am Strand aufgestapelt waren. Als sie alle an Land waren, reichte die Mannschaft große Säcke aus Ölzeug aus dem Boot. Hawkwood ahnte, dass es Tabak war.
Isaac packte Hawkwood am Ärmel. »Auf jetzt, einsteigen!«
Im selben Moment ertönte von der Kirche her der traurige Schrei eines Käuzchens.
Isaac erstarrte. »Oh Scheiße!«
Die Nacht wurde von einer Salve Musketenfeuer zerrissen.
12
Pulverblitze und Laternen beleuchteten die Klippen und die Männer am Strand rannten und versuchten, in Deckung zu gehen.
Isaac nahm seine zwei Pistolen aus dem Gürtel und zog die Abzüge mit den Daumen zurück.
Von beiden Seiten des Strandes kam knirschendes Hufgetrappel und Hawkwood drehte sich um und sah Reiter, die sich dunkel gegen die Gischt abhoben und schnell näher kamen.
»Lauft zum Boot!«, schrie Isaac. Eine der Pistolen in seiner Hand ging los.
Hawkwood sah, wie die Ruderer das Boot vom Kies hinunter ins Wasser schoben.
»Beeilt euch!« Wieder Isaacs Stimme.
Hawkwood sah, wie Abrahams Männer versuchten, wegzurennen, aber sie waren durch das Gewicht der Fässer, die sie hinten und vorn hängen hatten, stark behindert. Sie sahen aus wie betrunkene Truthähne, die im Dunkeln herumtorkelten.
Schüsse fielen.
Hawkwood hörte ein Stöhnen und sah Isaac fallen. Instinktiv griff er nach Isaacs zweiter Pistole, als jemand seinen Arm festhielt.
»Lass liegen!«, rief Lasseur und riss ihn zurück. »Die warten nicht auf uns!«
Die Pferde kamen näher. Berittene Polizei, ahnte Hawkwood, der vielleicht sogar die Kavallerie zu Hilfe gekommen war. Jetzt konnte er ihre Umrisse gegen den Himmel klar erkennen. Einige sahen aus, als trügen sie Dragonerhelme. Er duckte sich, als eine Kugel an seinem Ohr vorbeipfiff und suchte Lasseur, der seinen Arm losgelassen hatte und geduckt hinter dem Boot herlief, das sich bereits entfernte.
Isaac zeigte kein Lebenszeichen. An den Pulverblitzen und Explosionen am Strand sah Hawkwood, wo Schusswechsel stattfanden.
Er folgte Lasseurs Beispiel, ließ die unbenutzte Pistole stecken und stolperte aufs Wasser zu. Der Privateer hatte schon fast die Brandung erreicht. Hawkwood lief schneller. Das Hufgetrappel wurde lauter, er hörte bereits das Klirren des Zaumzeugs. Die Reiter kamen schnell näher.
Dann fiel Lasseur hin.
Hawkwoods erster Gedanke war, der Franzose sei getroffen worden, aber dann sah er, dass er nur über einen der Ballen aus Ölzeug gefallen war, den die Männer in ihrer Panik liegengelassen hatten.
Dann hörte Hawkwood einen Aufschrei und dachte, es sei Lasseur, aber es war nur einer der Reiter, der gesehen hatte, wie der Franzose fiel.
Lasseur erhob sich fluchend auf die Knie und sah nach dem Boot. Wieder ein Schrei, diesmal war es jemand im Boot. Die Pferdehufe am Strand klangen wie Donnergrollen. Schreie und Schüsse ertönten hinter ihnen.
Hawkwood sah seitlich etwas glitzern. Einer der Reiter, ein Dragoner, hatte seinen Säbel gezogen. Die Klinge blitzte im Mondlicht.
Lasseur stand auf. Die Reiter näherten sich unaufhaltsam. Der Anführer ritt mit unglaublicher Geschwindigkeit, den Säbel hoch erhoben. Hawkwood warf sich vorwärts in Richtung des Wassers.
Lasseur hatte noch immer keinen festen Halt unter den Füßen, als der Reiter seinem Pferd die Sporen gab. Hawkwood wusste, der Franzose würde es nicht schaffen. Das Boot war fast außer Reichweite. Gleich würde der Reiter ihn erreicht haben. Als ob er die Hufe zum ersten Mal hörte, drehte Hawkwood sich um und sah dem Tod ins Angesicht.
Hawkwood erreichte das Wasser keine zehn Yards vor Pferd und Reiter. Es war ihm, als würde der Mond durch eine dunkle Masse ausgelöscht, als er jetzt seinen Arm um Lasseurs Schulter legte und den Franzosen mit sich zog, obwohl er wusste, dass sie kaum eine Chance hatten, das Boot lebend zu erreichen.
Er spürte, wie die Luft in seiner Brust gegen sein Rückgrat gedrückt wurde, als das Pferd sich aufbäumte und er den Hieb erwartete.
Aus dem Boot kam ein Schuss. Hinter Hawkwood ertönte ein Schrei, als die Kugel den Dragoner in die Brust traf. Ein zweiter Schuss fiel. Hawkwood hörte ein lautes Wiehern, gefolgt von einem mächtigen Aufspritzen, als der große, schwere Pferdekörper in der Brandung zusammenbrach. Eine Flutwelle schwappte über ihn. Er wagte nicht, sich umzusehen, sondern bemühte sich weiter, das Boot zu erreichen, wobei er Lasseur vor sich herschob.
Er ahnte, dass hinter ihm ein Chaos herrschte, denn Pferd und Reiter waren so gefallen, dass sie nun eine Barriere zwischen ihnen und den anderen Reitern bildeten. Es war seine letzte Chance. Er sah, dass Lasseur bis zu den Oberschenkeln im Wasser stand, aber wenigstens hatte er das Boot erreicht. Arme streckten sich ihm entgegen. Hawkwood stürzte sich in die Wellen und teilte sie mit den Armen. Gerade als er den Boden unter den Füßen verlor, spürte er eine Hand an seinem Kragen und warf sich verzweifelt nach vorn. Seine Finger umklammerten das Dollbord. Er stieß sich mit den Füßen ab, und es gelang ihm, sich hochzuziehen. Wieder fiel ein Schuss, noch dichter an seinem Ohr, und er spürte die Wärme des explodierenden Pulvers an seiner Wange. Um Atem ringend drehte er sich um und sah einen weiteren Reiter über die Kruppe seines Pferdes nach hinten fallen.
»Schön, dass Sie sich entschlossen haben, mitzukommen«, sagte eine Stimme, als der Steuermann einen Schwall von Flüchen losließ und sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Ruder warf.
Als der Bug auf das offene Meer gerichtet war, tauchten die Ruderer ihre Riemen mit aller Kraft ins Wasser, und das Boot nahm Fahrt auf.
»Zieht, ihr Schlappschwänze, zieht!«
Der Strand hallte noch immer von Schüssen wider. Die Laternenträger stiegen mit tanzenden Lichtern den Klippenweg hinunter und schossen. Unten am Strand rannten dunkle Gestalten in alle Richtungen. Hawkwood fragte sich, welche Chancen die Schmuggler hatten, zu entkommen, solange die Fässer, die zwei Drittel von dem Gewicht eines Mannes hatten, an ihren Schultern hingen. Abraham und seine Leute würden die Schmuggelware zurücklassen müssen, wenn sie nicht gefangen werden wollten. Sie hatten keine andere Wahl.