»Wo ist das?«, fragte Hawkwood.
»Bei der Swale.«
»In Kent also.«
Ludd nickte. »Zu dem Zeitpunkt gab es keinen Grund zur Annahme, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Wir betrauerten ihn und begruben ihn, und dann schickten wir Leutnant Sark, um die Untersuchungen aufzunehmen.«
»Aber jetzt, wo Sark sich noch nicht gemeldet hat, vermuten Sie, dass der Tod durch Ertrinken vielleicht doch kein Unfall war.«
»Das ist möglich, ja.«
»Entschuldigen Sie, Captain, aber ich sehe immer noch nicht, was das mit Bow Street zu tun hat«, sagte Hawkwood. »Das ist doch bestimmt eine Sache für die Navy?«
Ehe Ludd antworten konnte, mischte James Read sich ein: »Captain Ludd ist hier auf Veranlassung von Richter Aaron Graham. Richter Graham ist der Regierungs inspektor, der für die Verwaltung aller Kriegsgefangenen verantwortlich ist. Er untersteht direkt dem Innenminister. Es war die Empfehlung des Innenministers Ryder, dass die Behörde unsere Hilfe in Anspruch nehmen sollte.«
Hawkwood hatte die Bekanntschaft des Innenministers Ryder gemacht, der ihn nicht übermäßig beeindruckt hatte, aber er hielt generell nicht viel von Politikern, egal welchen Ranges. Er traute keinem von ihnen. Er hatte Ryder reichlich hochnäsig gefunden, erfüllt von seiner eigenen Wichtigkeit. Er fragte sich, ob Ryder sich direkt an James Read gewandt hatte. Die Art, wie der Oberste Richter mit Ludd sprach, ließ nicht darauf schließen, dass er ihn nur widerwillig duldete, aber Read beherrschte es meisterhaft, neutral zu bleiben. Was nicht bedeutete, dass es hinter dem gelassenen Gesichtsausdruck in seinem Kopf nicht gleichzeitig fieberhaft arbeiten konnte.
Read stand auf. Er ging zum Kamin und nahm seine gewohnte Stellung vor der Feuerstelle ein. Zwar brannte kein Feuer, aber Read stand da, als wärme er sich. Hawkwood vermutete, dass ihm diese Stellung, ob mit oder ohne Feuer, beim Denken half. Und tatsächlich schien alles, was er sagte, dadurch ein gewisses Gewicht zu bekommen und Hawkwood fragte sich, ob der Oberste Richter dies nicht beabsichtigte.
Read spitzte die Lippen. »Es ist ja kein Geheimnis, dass die Behörde in den letzten zwölf Monaten ziemlich viel kritisiert worden ist. Sie war Gegenstand zweier Sonderausschüsse. Man kam zu dem Ergebnis, dass die Behörde nicht so effizient gearbeitet hat, wie man es von ihr erwartet hatte. Weitere negative Nachrichten würden … na, sagen wir, nicht sehr helfen. Bisher konnten diese Fluchten vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Es besteht jedoch Grund zur Sorge, dass, wenn diese Unfähigkeit, feindliche Gefangene unter Verschluss zu halten, an die Öffentlichkeit dringt, die Regierung an Glaubwürdigkeit verlieren könnte. Bei allem Respekt für Captain Ludd, aber wenn der Verlust eines Offiziers, der diese Gefängnisausbrüche untersuchen sollte, noch als Unglücksfall abgetan werden kann, so grenzt der Verlust zweier Offiziere doch schon fast an Leichtsinn. Dies ist alles Wasser auf die Mühlen der Kritiker, und für ein Land, das sich im Krieg befindet, könnte jeder Vertrauensverlust ernste Konsequenzen haben.«
Hawkwood sah verstohlen den Captain an und empfand Mitleid. Er wusste, wie es war, Männer im Kampf zu verlieren; er selbst hatte mehr Männer eingebüßt, als er sagen konnte, und es war schmerzhaft, damit zu leben.
»Welche Hilfe also?«, fragte Hawkwood.
Read zog fragend die Brauen zusammen.
»Sie sagten, der Innenminister möchte, dass die Behörde unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Wie soll diese Hilfe aussehen?«
James Read sah Ludd an, der mühsam lächelte. »Meine Vorgesetzten weigern sich, die Untersuchung weiter zu unterstützen.«
»Sie meinen, dass kein weiteres Personal dafür bewilligt wird«, sagte Hawkwood.
Ludd wurde rot. »Wie der Richter Read schon sagte, haben wir bereits zwei Männer bei der Untersuchung verloren. Ich habe keine Lust, einen dritten Mann loszuschicken, um den Tod und das Verschwinden der beiden ersten aufzuklären.«
Jetzt war alles klar. Hawkwood starrte James Read an. »Sie möchten, dass Bow Street die Untersuchung weiterführt?«
»Ja, das ist der Wunsch des Innenministers.«
»Und warum glaubt er, dass wir Erfolg haben werden, wo die Navy gescheitert ist?«
Read legte die Hände auf den Rücken. »Der Innenminister meint, auch wenn die Navy ihre Offiziere dafür einsetzen kann, es doch gewisse Vorteile haben könnte, wenn man Personal damit beauftragt, das nicht zur Navy gehört, besonders wo es sich quasi um Untersuchungen in geheimer Mission handelt.«
»Geheimer?«
»Wir haben Möglichkeiten, die andere - wie soll ich sagen? - konventionellere, weniger flexible Regierungsbehörden nicht haben. Würden Sie mir nicht zustimmen, Captain Ludd?«
»Ich denke, das können Sie besser beurteilen, Sir«, sagte Ludd taktvoll.
»In der Tat.« Read sah Hawkwood prüfend an.
Dessen Nacken fing plötzlich an zu kribbeln. Es war kein angenehmes Gefühl.
»Ich meine damit die Künste der Listenreichen, Hawkwood; die Fähigkeit, im Hintergrund zu verschwinden - äußerst nützlich, wenn man es mit Kriminellen zu tun hat, wie Sie uns schon so oft bewiesen haben.«
Hawkwood wartete auf das Fallbeil.
»Captain Ludd und ich haben die Sache besprochen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie der Ermittler sind, der für diese Aufgabe am besten geeignet ist.«
»Und um welche Aufgabe handelt es sich da, Sir … ganz genau?«
James Read lächelte grimmig. »Wir schicken Sie auf einen Hulk, ein Gefängnisschiff.«
Das Gesicht des Obersten Richters war ernst. »Wir haben im ganzen Land Kriegsgefangene, von Somerset bis Edinburgh. Zum Glück ist das neue Gefängnis in Maidstone ideal für unseren Zweck. Es wird als Zwischenlager benutzt, von dem die Gefangenen zu den Schiffen auf der Medway und auf der Themse gebracht werden. Sie werden Ihre Gefangenschaft dort antreten. Von Maidstone werden Sie zu dem Gefängnisschiff Rapacious gebracht werden. Es liegt vor Sheerness. Es ist besser, dass Sie mit einem Gefangenentransport dort ankommen statt ganz allein. Es gibt keinen Grund, warum Sie jemand nach Papieren fragen sollte, aber Sie werden Gelegenheit haben, vor dem Transport mit anderen Gefangenen Bekanntschaften zu knüpfen.«
Es war interessant, dachte Hawkwood, dass der Oberste Richter das Wort Gefangenschaft gebraucht hatte statt Auftrag. Vielleicht war es ein Versprecher gewesen. Aber vielleicht auch nicht.
»Ihre Aufgabe hat mehrere Aspekte«, sagte Read. »Erstens sollen Sie herausfinden, wie diese Ausbrüche zustande gekommen sind …«
»Wollen Sie damit sagen, das wissen Sie nicht?«, unterbrach Hawkwood und starrte Ludd an.
Ludd trat von einem Bein aufs andere. »Wir wissen, dass die Rapacious in den letzten sechs Wochen vier Gefangene verloren hat. Das Dumme ist, dass wir nicht genau wissen, wann es passierte. Wir können davon ausgehen, dass die anderen Gefangenen die Flucht vor der Besatzung geheim gehalten haben, möglicherweise durch Schummeln beim Appell. Wenn wir jedoch die genauen Fluchtzeiten nicht wissen, können wir auch nicht herausfinden, wie es zustande gekommen ist, ob sich durch Nachlässigkeit eine plötzliche Gelegenheit dazu ergab, oder ob die Ausbrüche von langer Hand vorbereitet waren. Wir wissen nur, dass wir vier Mann vermissen. Was die Sache noch interessanter macht, ist, dass die anderen Schiffe auf der Medway ähnliche Verluste hatten. Wir vermissen auch eine Handvoll Leute, die nach ihrem Freigang nicht wiedergekommen sind.«
»Wie viele insgesamt?«, fragte Hawkwood.
»Es werden zehn vermisst.«
»Über welchen Zeitraum?«
»Zwei Monate«, sagte Ludd.
»Wie ich schon sagte …« James Read unterbrach die bedeutungsvolle Pause, die nach Ludds Geständnis eingetreten war. »Sie sollen auch herausfinden, ob die Ausgebrochenen Hilfe von außen hatten. Captain Ludd glaubt, dass das der Fall sein muss.«