Higgs schüttelte hastig den Kopf. »Oh Gott, nein. Darauf will ich’s nicht ankommen lassen. Wenn ich das täte, würde sie mich nicht mehr aus dem Haus lassen.« Er grinste.
Die Frau lächelte. Plötzlich war ihr Gesicht wie verwandelt. Sie war schön, dachte Hawkwood. »Ich habe Holunderblütensaft, davon könntest du Megan etwas mitnehmen.«
»Wenn das ein Angebot ist …«
»Warte.« Die Frau stellte den Eimer hin und ging ins Haus.
Der Hund beobachtete sie durch die Zottelhaare und überlegte, ob er ihr folgen oder hier Wache halten sollte. Schließlich entschied er, dass Wachsamkeit den Fremden gegenüber etwas weniger Anstrengung für ihn bedeutete.
Die Frau kam mit einem kleinen Steinkrug zurück, den sie dem Totengräber gab. Der stellte den Krug zwischen seine Füße, ergriff die Zügel, nickte Hawkwood und Lasseur kurz zu und fuhr mit einem Schnalzen los. Sie sahen ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand.
Die Frau drehte sich um. »Hier lang. Kommen Sie mit.« Sie ging voran zur Scheune. Der Hund stand auf und folgte ihnen langsam und schwerfällig.
In der Scheune war es kühl. Es gab einen Getreidekasten und zwei Boxen, in dem einen stand eine Milchkuh. Es roch nach frischem Dung und Hühnern. Einige Hühner suchten nach Körnern.
»Hier ist es trocken und es ist viel Platz. Ich glaube, Sie werden es ganz bequem haben.«
Sie führte sie in eine Ecke. An der Wand waren Strohballen aufgeschichtet. Sie ergriff einen der unteren Ballen und zog ihn vor, worauf eine dunkle Öffnung zum Vorschein kam. In dem Raum dahinter sah Hawkwood einen Eimer und ein paar Tonnen, die an der Wand standen. »Wenn jemand kommt, müssen Sie sich hier verstecken.« Sie zeigte auf den Hund. »Das ist Rab. Er wird alt, aber er ist ein guter Kerl und warnt mich, wenn Fremde kommen.«
Der Hund wedelte, als er seinen Namen hörte.
»Ich habe jemanden, der kommt und mir hilft. Ein Mann namens Thomas. Sie werden ihn leicht erkennen, denn er hinkt und hat hier eine Narbe.« Die Frau fuhr mit dem Finger über ihr rechtes Auge und die Wange. »Vor dem brauchen Sie sich nicht zu verstecken.« Während sie sprach, betrachtete sie die Narben auf Hawkwoods Gesicht. »Sie heißen Hooper, ist das richtig?«
»Das ist richtig.«
»Sind Sie Engländer?«
»Amerikaner.«
Sie betrachtete ihn einige Sekunden, dann nickte sie stumm. Sie sagte: »Wenn ich soweit bin, bringe ich Ihnen etwas zu essen und zu trinken.«
»Danke«, sagte Lasseur, ernüchtert von ihrem kompromisslosen Blick. »Wie sollen wir Sie anreden?«
»Madame.«
Sie wandte sich um, ehe sie etwas erwidern konnten, und ging mit entschlossenem Schritt ins Haus, der Hund dicht hinter ihr. Im Vorbeigehen nahm sie den Eimer mit.
Die Männer sahen hinter ihr her.
Lasseur sah Hawkwood an und grinste. »Ich glaube, sie mag mich.«
13
Hawkwood hatte die Augen geschlossen. Es war merkwürdig, dachte er, dass er noch immer den Geruch des Hulk in der Nase hatte. Die Vernunft sagte ihm, dass der Gestank des Gefängnisschiffs unmöglich bis hierher getragen werden könne, und doch hätte er schwören können, er war da, ein ekelerregendes Phantom, das seine Geruchsnerven belästigte.
Obwohl er wusste, dass es lächerlich war, öffnete er die Augen, um sich zu überzeugen, dass er nicht wieder auf dem Geschützdeck war. Er sah die Wiese, den Bach und die umliegenden Wälder und empfand ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung. Er saß auf einem Holzklotz, den Rücken an die Scheunenwand gelehnt.
Er prüfte schnüffelnd die Luft. Seine Nackenhaare sträubten sich. Im selben Moment wusste er, dass es keine Einbildung war. Dieser Gestank war tatsächlich da, und seine Ursache lag näher, als er vermutet hatte. Es war seine eigene Ausdünstung, die er roch. Er trug den Makel des Hulk noch immer mit sich herum. Er hing in seinen Kleidern, und auch sein Schweiß roch danach. Er hielt seinen Ärmel an die Nase und zuckte angewidert zurück. Er konnte sogar die Makrelen riechen. Kein Wunder, dass der Totengräber sie am anderen Ende des Wagens hatte sitzen lassen; und kein Wunder, dass die Frau sie so misstrauisch angesehen und ihnen zu verstehen gegeben hatte, sie sollten sich vom Haus fernhalten. Die Frage ging ihm durch den Kopf, ob das wohl auch der Grund war, warum alle so darauf bedacht gewesen waren, sie möglichst schnell an den Nächsten weiterzureichen? Weil jeder ihrer Fluchthelfer den Gestank nur für eine kurze Zeit aushalten konnte? Mit einem Ruck setzte er sich auf.
Lasseur, der neben ihm gedöst hatte, spürte die Bewegung und war sofort wach. »Was ist los?« Seine Augen suchten den Waldrand ab.
Hawkwood stand auf. »Ich werde jetzt ein Bad nehmen.« Er ging in die Scheune, holte seine Decke und machte sich auf zum Bach.
Verwundert sah Lasseur ihm nach. Dann hob er seinen Ärmel, steckte die Nase in seine Achselhöhle und fuhr ebenfalls zurück.
Der Privateer hatte immer großen Wert darauf gelegt, gepflegt auszusehen. Auf persönliche Sauberkeit zu achten war nicht schwer auf See, wo man von Wasser umgeben war. Unter diesen Umständen war auch das Wäschewaschen kein Problem und sicher viel einfacher als für einen Soldaten im Feld. Seit seiner Gefangennahme jedoch war das alles anders geworden.
Zwar hatte es auf dem Hulk Waschgelegenheiten gegeben, sie waren jedoch angesichts der Anzahl der Gefangenen völlig unzureichend. Seife war äußerst knapp, oft hatte es gar keine gegeben. Lasseurs letztes Bad war am Tage seiner Ankunft gewesen, als er und Hawkwood und die anderen in die Wasserfässer auf dem Quarterdeck steigen mussten. Seitdem war Seife genauso knapp gewesen wie frisches Obst.
Es war merkwürdig und eigentlich ziemlich beunruhigend, wie leicht man alle guten Angewohnheiten vergessen konnte, und zwar so gründlich, dass er und Hooper gegen den Gestank auf den Schiffen genauso immun geworden waren, wie Murat es vorhergesagt hatte. Keiner von ihnen merkte, welchen Duft sie verströmten.
Lasseur musterte seine Kleidung. Es war nicht abzustreiten, sie starrte vor Dreck und musste ebenfalls dringend gewaschen werden. Er fand, dass es nicht genügte, sie nur mit klarem Wasser zu waschen, deshalb machte er sich auf zum Farmhaus.
Der Hund lag vor der Tür. Als Lasseur sich näherte, stand er auf und bellte kurz.
Die Frau kam um das Haus, einen Weidenkorb im Arm. In dem Korb war Wäsche, und hinter ihr sah Lasseur eine Wäscheleine, die zwischen den Apfelbäumen gespannt war.
Der Hund hatte seine Aufgabe als Wächter erfüllt und setzte sich neben die Frau. Lasseur nahm an, dass er von ihm beobachtet wurde, obwohl es schwer war, durch das dichte Fell die Augen des Tieres zu sehen.
Dagegen sah er die Augen der Frau sehr gut. Es fiel ihm auf, dass ihr wieder eine Haarsträhne lose über die Wange hing. Zu gern hätte er gewusst, wie alt sie war. Sie hatte Fältchen um die Augen, nicht tief, aber ohne sie, dachte er für sich, wäre ihr Gesicht nicht so ausdrucksvoll. Sie mochte um die dreißig sein, und er dachte daran, dass seine Frau Marie, wenn sie noch am Leben wäre, ebenso alt wäre. Plötzlich überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von Verlust und Sehnsucht. Er schluckte und hoffte, dass die Frau diesen Moment der Schwäche nicht bemerkt hatte.
»Verzeihen Sie, Madame. Dürfte ich Sie um etwas Seife bitten? Mein Freund und ich möchten baden und unsere Kleider waschen.«
Er zerrte an seinem Hemd, als wolle er es an die Nase halten, und riskierte ein Lächeln.
Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur stumm an. Lasseur wunderte sich, wie eingeschüchtert er sich vorkam. Verlegen knöpfte er seine Jacke zu und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar. Er fragte sich, wie schlimm er wohl stank. Er war froh, dass er nicht näher getreten war.
»Warten Sie«, sagte sie kurz. Sie stellte den Korb hin und verschwand im Haus.