Sie kamen aus dem Stall und sahen, dass der Wagen verschwunden war. Hawkwood vermutete, dass Asa Higgs und Del irgendwo die Fässer abluden; entweder das, oder der Totengräber war bereits wieder auf dem Rückweg zur Küste, während Del zusammen mit Billy, seinem ebenso kräftig duftenden Kumpel, wieder die Wälder unsicher machte.
Eine Laterne in der Hand, führte sie der wortkarge Pepper über den Hof und um mehrere Ecken, bis sie schließlich einen Innenhof erreichten, der von einem Kreuzgang umschlossen war. Dieser Teil des Hauses war sehr alt und offenbar ein Überrest des ursprünglichen Klosters. Die alten Steinplatten unter den Bögen des Kreuzganges glänzten im Mondlicht wie die Oberfläche eines Teiches. Es war nicht schwer, sich Mönche in dunklen Kutten vorzustellen, die hier stumm meditierend umhergewandelt waren, wobei jeder ihrer frommen Schritte im Laufe der Jahrhunderte die Steine ein wenig mehr abgenutzt hatte.
Pepper hielt sich nicht lange auf, sondern führte sie in der Ecke des Kreuzganges durch einen Torbogen. Sie gingen einen dunklen Korridor entlang bis zu einer niedrigen Holztür. Als Pepper die Tür aufstieß und zurücktrat, verstanden sie Morgans kleinen Scherz.
Die Zelle, denn um eine solche hatte es sich früher sicher gehandelt, war einfach möbliert und bot gerade genug Platz für zwei schmale Pritschen, einen Stuhl und einen kleinen Tisch, auf dem ein Leuchter mit einem Kerzenstummel stand, daneben lagen ein paar Wachsstöcke. Gegenüber der Tür war hoch oben in der Wand ein kleines Fenster, das kaum diesen Namen verdiente, und durch das ein schmaler Mondstrahl fiel. Das Einzige, was fehlte, war das Kruzifix an der Wand.
Pepper nahm einen der Wachsstöcke und übertrug damit das Licht von der Laterne auf den Leuchter. »Der Schlafsaal ist voll, deshalb sind Sie hier. Sie werden’s ganz bequem haben. Denken Sie daran, was Mr. Morgan Ihnen gesagt hat. Bleiben Sie dicht am Haus, es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Hier den Korridor entlang gibt’s einen Waschraum und ein Klo.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den Raum und machte die Tür hinter sich zu. Hawkwood und Lasseur standen da und sahen sich an. Durch die dicke Holztür konnten sie nicht hören, ob Pepper weggegangen war, oder ob er, das Ohr an die Tür gelegt, noch draußen stand.
Hawkwood probierte die Türklinke. Zwar hatte er nicht gehört, dass ein Schlüssel umgedreht worden war, aber es hätte ihn nicht überrascht, wenn Pepper sie eingeschlossen hätte. Die Tür ließ sich ohne Mühe öffnen. Der Gang draußen war dunkel, leer und still.
»Nun ja«, sagte Lasseur und probierte die Pritsche aus. Er verzog schmerzhaft das Gesicht, als er merkte, wie dünn der Strohsack war. »Das Abenteuer geht weiter. Was hältst du von Monsieur Morgan?«
»Ich glaube, dass man jemand, der sich mit einem Haufen bewaffneter Wachen umgibt, ernst nehmen sollte.«
Lasseur lachte leise, das Kerzenlicht spielte auf seinem aristokratischen Gesicht. »Und Pepper?«
»Pepper ist gefährlich«, sagte Hawkwood ohne zu zögern.
Lasseur dachte eine Weile darüber nach. »Dieser Vorschlag, von dem Morgan sprach, was glaubst du, was das sein wird?«
»Auf jeden Fall werden wir nichts umsonst bekommen«, sagte Hawkwood, »so viel ist klar.«
Lasseur sah sich im Raum um. »Also schlafen wir drüber.«
Hawkwood streckte sich auf der zweiten Pritsche aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Zunächst mal«, sagte er.
Morgengrauen.
Hawkwood warf seine Decke zur Seite, setzte sich auf und zog die Stiefel an. Er sah zu Lasseur hinüber. Der Franzose hatte den Kopf zur Wand gedreht und schien noch zu schlafen.
Hawkwood nahm seine Jacke und verließ die Zelle. Er ging zum Klo und pinkelte, dann wusch er sich an einem der Steinbecken im Waschraum das Gesicht mit kaltem Wasser. Er fuhr sich mit den Fingern über das stoppelige Kinn und überlegte kurz, ob er sich einen Bart wachsen lassen sollte. Doch dann stellte er sich Maddie Teagues Gesicht vor, wenn er mit Vollbart bei ihr auftauchen würde. Doch keine so gute Idee, entschied er.
Er zog die Jacke wieder an. Zeit für einen Morgenspaziergang.
Er ging den Weg zum Kreuzgang zurück, dann verließ er den Schutz der Gewölbe, trat aus dem Hauptgebäude und ging nach draußen. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgestellt, die Hände in die Taschen gesteckt und war für alle gut sichtbar. Gemäß dem Grundsatz, dass es nicht klug ist, einen Terrier in ein Rattenloch zu schicken, wenn man nicht mindestens einen Ausweg kennt, wusste Hawkwood, dass es auch hier seine erste Aufgabe sein musste, den Grundriss des Haunt zu erkunden und herauszufinden, wie effizient das Anwesen bewacht war.
Hawkwood hatte keine Uhr. Er schätzte, dass es etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang sein musste. Es sah aus, als würde es wieder ein schöner Tag werden. Die blasse Sonne hatte den Morgennebel schon zum größten Teil aufgelöst, nur über dem taufeuchten Gras hingen noch ein paar dünne Schwaden. In den nahen Wäldern hörte man Ringeltauben gurren und umherflattern und von den Wiesen weiter unten drang das schwermütige Muhen der Kühe durch die morgendliche Stille herauf. Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum ein Mönchsorden sich diese friedliche Umgebung für eines ihrer Klöster ausgesucht hatte. Das erhöhte Gelände und die Abgeschiedenheit hatten den frommen Männern sicher das Gefühl gegeben, hier Gott näher zu sein.
Hawkwood bezweifelte, dass für den augenblicklichen Landbesitzer ähnliche spirituelle Erwägungen eine Rolle gespielt hatten. Ezekiel Morgan hatte diesen Ort in erster Linie aus logistischen Gründen gewählt. Man hätte blind sein müssen, um nicht die strategischen Vorteile dieser Lage zu erkennen, von der aus man einen so weiten Blick über die Umgebung hatte. Selbst wenn man den umliegenden Wald berücksichtigte, war es äußerst unwahrscheinlich, dass es einem größeren Trupp gelingen könnte, unbemerkt in den Haunt einzudringen.
Er sah zurück. Jetzt, bei Tageslicht, erfasste er erst das gesamte Herrschaftsgebiet von Ezekiel Morgan. Jess Flynns kleiner Hof hätte hier bestimmt mehrmals hineingepasst. Wenn die Größe des Anwesens ein Maßstab war, dann war mit dem Schmuggelgeschäft weitaus mehr Geld zu verdienen, als Hawkwood es sich vorgestellt hatte. Kein Wunder, dass der Mann so einen Aufwand mit der Bewachung trieb.
Außer dem Haus und den Stallungen entdeckte Hawkwood eine Reihe weiterer Außengebäude und eine große Scheune. Er sah auch mehrere Koppeln, auf denen Pferde grasten. Man konnte die Mauerreste des ehemaligen Klosters leicht an ihrem Alter und an der Bauweise erkennen. Von der Kapelle standen nur noch die Außenmauern, das Dach war seit langem eingefallen, und das Kirchenschiff war ungeschützt Wind und Wetter preisgegeben. Die hohen Fenster, die einst mit kunstvollen bunten Bildern verglast gewesen sein mochten, sahen jetzt aus wie blinde Augenhöhlen in einer Reihe grauer Totenschädel. Zwischen den Mauern der Ruinen grasten schwarzwollige Schafe.
Hawkwood atmete tief durch. Die Luft war frisch und duftete nach Gras und Blüten, der allgegenwärtige Gestank der überfüllten Londoner Straßen schien eine Ewigkeit entfernt. Auch der Geruch des Hulk war nur noch eine blasse Erinnerung.
Die neun Fuß hohe Mauer um das Anwesen schien auf den ersten Blick intakt zu sein, aber als Hawkwood weiterging, bemerkte er Stellen, wo sie repariert worden war. Ein Stück weiter entfernt sah er Teile, die eingestürzt waren.
Die Lücken waren mit Palisadenhölzern überbrückt worden, die jedoch nicht sehr widerstandsfähig aussahen. Man sah jedoch auch, dass es nur eine vorübergehende Maßnahme war, denn überall lagen schon Handwerkszeug und Steine bereit, außerdem Eimer und Säcke mit Sand und Kalk zum Mischen von Mörtel.
Die Mauer verschwand im Wald, aber Hawkwood war überzeugt, dass sie entweder unbeschädigt war, oder dass schadhafte Stellen, genau wie die anderen, vorübergehend gesichert waren, bis sie repariert werden konnten. Er hatte genug gesehen und wusste jetzt, dass Morgan, genau wie ein guter General, seinem Schutzwall größte Aufmerksamkeit widmete. Hawkwood erinnerte sich an die Stadtmauern, die er in Spanien gesehen hatte; auch hier war die Kirche immer auf dem höchsten Punkt gebaut worden.