Hawkwood sprach mit Lasseur auf Französisch. »Schau dich gut um, und pass auf dich auf.«
»Du auch«, sagte Lasseur düster.
Hawkwood machte eine kurze Kopfbewegung zu McTurk und sagte auf Englisch: »Gehen wir.«
Hawkwood ging voran. Mit dem Gebüsch als Deckung, gingen sie geradewegs auf die Bäume hinter dem Cottage zu. Dort war ein kleines Außengebäude, von dem Hawkwood annahm, dass es ein Stall war. Er roch Holzrauch, was ihn einen Moment an ihre Ankunft auf Jess Flynns Farm erinnerte. Hinter ihm knackte ein Zweig, und er blieb stehen. Als er sich umdrehte, sah er, dass McTurk seine Pistole gezogen hatte.
Das Licht kam aus einem Fenster auf der Seite. Es flackerte, als Hawkwood und McTurk weitergingen, und Hawkwood hatte den vagen Eindruck, als habe sich ein Schatten zwischen Licht und Fenster bewegt. Dann wurde das Licht noch schwächer, als eine Gardine zugezogen wurde, so dass man im Raum nichts mehr sehen konnte.
Als sie der Hintertür näher kamen, griff McTurk in seine Weste und zog zwei Kapuzen heraus. Er hielt Hawkwood eine hin und zog sich die andere über den Kopf. Selbst aus nächster Nähe war der aufgemalte Totenkopf schauerlich genug, um einem Herzklopfen zu verursachen. Hawkwood verdrängte seine Abscheu und zog die andere Kapuze über. Sofort erfasste ihn eine unheimliche Klaustrophobie. Gleichzeitig spürte er, wie seine Halsmuskeln sich verkrampften, ein Gefühl, das er nur zu gut kannte. Dann fanden seine Augen die Sehschlitze, die die Augenhöhlen des Totenschädels darstellten, und als er wieder sehen konnte, war auch das Unbehagen vorüber. Er schob die Kapuze über seinem Gesicht zurecht und hörte ein leises Ratschen, als McTurk den Bolzen seiner Pistole zurückzog.
Hawkwood trat zur Seite, als McTurk die Hand auf den Türriegel legte. McTurk sah ihn an, und Hawkwood nickte. McTurk hob das Bein mit dem Stiefel an, zog den Riegel hoch und trat zu.
Die Tür flog laut krachend auf. Hawkwood und McTurk traten mit hoch erhobenen Pistolen ein, McTurk rechts von Hawkwood.
Die Küche war nicht groß. Es gab eine Feuerstelle und einen Kochherd, über dem Töpfe, Pfannen und anderes Kochgerät an Haken hingen. Mitten im Raum stand ein Tisch, daran saß ein Mann in Hemd und Kniehose, seine Weste hatte er aufgeknöpft. Die Gabel in seiner Hand war auf halbem Weg stehen geblieben. Über der Stuhllehne hing eine Uniformjacke. Er starrte auf die vermummten Besucher, wobei sein Mund ihm vor Schreck offen stand und ihm beim Anblick der Pistolen das Blut aus dem Gesicht gewichen war. Er warf einen schnellen Blick zum Schrank hinüber, auf dem zwei Pistolen lagen.
»Nein«, warnte McTurk, der dem Mann seine Pistole an den Kopf hielt. »Lass das.«
McTurk nickte Hawkwood zu und löste die Sicherung seiner Pistole. »Er gehört Ihnen.«
In dem Bruchteil der Sekunde, den Hawkwood brauchte, um ihm seinen Pistolenlauf gegen den Schädel zu schmettern, merkte McTurk, dass er einen Fehler gemacht hatte. Doch da war es bereits zu spät. McTurk fiel wie von einer Axt getroffen, die immer noch geladene Pistole rutschte ihm aus der Hand. Der Mann sprang vom Stuhl auf und ließ klirrend seine Gabel fallen, doch Hawkwood drehte sich blitzschnell um und zog den Abzug seiner Pistole zurück. »Setzen Sie sich.«
Zitternd, den Lauf von Hawkwoods Pistole an seiner Stirn, setzte sich der Mann wieder hin.
»Setzen Sie sich auf Ihre Hände«, sagte Hawkwood. »Handflächen nach unten.«
Der Mann tat, wie befohlen. Seine Augen waren noch immer weit aufgerissen. Er hatte ein längliches, zerfurchtes Gesicht und kurzgeschnittenes blondes Haar mit gepflegten Koteletten, die fast bis zum Kinn hinunterreichten. Hawkwood schätzte, dass er in den letzten drei Sekunden wahrscheinlich um zehn Jahre gealtert war.
Hawkwood griff nach seiner Kapuze und zog sie vom Kopf. Er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte.
»Sie sind der berittene Officer Henry Jilks?«, fragte Hawkwood.
Der Mann nickte stumm. Seine Augen wanderten von Hawkwood zu dem leblosen Körper auf dem Boden. Man sah ihm an, dass er unter Schock stand. Während er die Pistole weiterhin auf Jilks’ Brust gerichtet hielt, stopfte Hawkwood die Kapuze in die Jackentasche, dann hob er McTurks Waffe auf.
»Sehen Sie nicht ihn an, sondern mich«, sagte Hawkwood. »Und sagen Sie nichts, sondern hören Sie gut zu.«
Jilks hob den Kopf.
»Ich tue Ihnen nichts. Ich heiße Matthew Hawkwood. Ich bin Sonderermittler. Ich arbeite für den Obersten Richter James Read von der Staatsanwaltschaft in London.«
Hawkwood merkte, wie sich Erstaunen auf Jilks’ Gesicht ausbreitete.
»Es gab ein Komplott, Sie heute Abend umzubringen. Dahinter steckt Ezekiel Morgan. Er mag es nicht, wie Sie seine Geschäfte stören. Der hier auf dem Boden ist Patrick McTurk. Er ist einer von Morgans Leuten. In der Nähe ist noch ein Mann, also haben wir nicht viel Zeit.«
Als er die Namen McTurk und Morgan hörte, wurde Jilks noch blasser.
»Passen Sie jetzt gut auf«, sagte Hawkwood streng. »Ich habe Ihr Leben gerettet, weil ich möchte, dass Sie eine Nachricht für mich übermitteln.«
»Eine Nachricht?« Jilks hatte seine Stimme wieder gefunden und runzelte die Stirn, dann fiel ihm der Kinnladen herunter. »Nach London?«
»Nach Chatham«, sagte Hawkwood. »Zum Hafen; das Büro der Transportbehörde, für Captain Elias Ludd.«
»Chatham? Warum Chatham? Ich verstehe nicht.« Jilks schüttelte verwirrt den Kopf.
»Sie brauchen es auch nicht zu verstehen«, sagte Hawkwood kurz. »Ich sagte Ihnen bereits, Sie brauchen nur zuzuhören. Mir ist es egal, wie Sie es schaffen, aber Sie müssen mit Captain Ludd sprechen. Sagen Sie ihm, dass Morgan und seine Leute in drei Tagen eine Ladung Gold aus dem Haus der Admiralität in Deal stehlen wollen. Er soll alle nötigen Vorkehrungen treffen. Sagen Sie ihm, die Nachricht kommt von mir. Er wird es verstehen.«
Der Mann am Tisch starrte Hawkwood entsetzt an.
Hawkwood sagte: »Sie haben doch draußen ein Pferd im Stall?«
Jilks nickte.
»Warnen Sie Ludd. Das ist ein Befehl. Haben Sie verstanden?«
»Ja«, sagte Jilks, doch sah er noch immer unentschlossen aus.
»Was ist?«, fragte Hawkwood in scharfem Ton.
Jilks wurde rot. »Verzeihen Sie, aber wie weiß ich, dass Sie der sind, für den Sie sich ausgeben?«
»Sie leben noch«, sagte Hawkwood. »Das ist der einzige Beweis, den ich Ihnen geben kann.«
Im selben Augenblick hörte man in der Dunkelheit hinter der Tür zum nächsten Zimmer ein Geräusch. Hawkwood drehte sich um.
»Hier herein, sofort!«
Es kam keine Antwort.
»Verdammt, ich sagte sofort!«
Die Frau, die in die Küche trat, trug Arbeitskleidung und eine Schürze. Sie war ein paar Jahre jünger als Jilks. Das Haar hing ihr offen über das Gesicht. Sie ging zum Tisch und stellte sich hinter den Mann, wobei sie wie hypnotisiert auf die Pistole in Hawkwoods Händen starrte.
»Wie heißen Sie?«, fragte Hawkwood.
»Esther,« flüsterte sie mit einem Blick auf den Mann auf dem Boden; ihre Hand fuhr zum Mund, als sie dort, wo McTurks Gesicht hätte sein sollen, den aufgemalten Totenkopf sah. Die Frau, von der Morgan gesprochen hatte. Haushälterin? Ehefrau? Geliebte? Für ein Verhör war jetzt keine Zeit.
Vom Fußboden kam ein Stöhnen und die Frau fuhr zurück. McTurk bewegte sich.
Hawkwood sprach wieder zu Jilks. »Sie wissen, was Sie zu tun haben?« Jilks zog seine Hände hervor. Er sah Hawkwood fragend an. »Und was machen Sie?«
Hawkwood verzog das Gesicht. Die Narben auf seiner Wange schienen unnatürlich weiß. »Ich? Ich werde das tun, was jeweils gerade nötig ist.«
Wieder kam ein Stöhnen vom Boden.
Hawkwood drehte sich um, zielte mit der Pistole auf McTurk und schoss. Die Kugel drang durch die Kapuze in McTurks rechte Augenhöhle und trat zusammen mit Blut, Knochensplittern und Fasern der schwarzen Kapuze am Hinterkopf wieder heraus. McTurks Leiche zuckte von der Wucht des Aufpralls zusammen, dann sackte sie auf den Boden.