Er wusste jedoch, dass es sicher das Klügste war, zunächst Constable Hawkwoods Anweisung zu folgen und sich aus dem Staub zu machen. Er dachte an die Nachricht, die er übermitteln sollte. Sie klang zu fantastisch, um wahr zu sein, aber der Ausdruck in Hawkwoods blaugrauen Augen war zu ernst gewesen, um ihn zu ignorieren, genau wie die Aussicht, dass es, wenn es wahr sein sollte, eine einmalige Gelegenheit war, um Ezekiel Morgans Herrschaft ein für alle Mal zu beenden.
Jilks knöpfte seine Weste zu, zog die Jacke an und nahm seine Pistolen. Es war Zeit, sich aufzumachen. Esther war schon im Stall, um das Pferd zu satteln. Er dachte an Esther, die ihm mehr als eine Haushälterin geworden war. Er dachte daran, sie mitzunehmen, und fragte sich, was sie davon halten würde. Er konnte sie später nachkommen lassen, wenn er in Sicherheit war.
Damit war er bei der Frage, welche Richtung er einschlagen sollte. Riding Officers waren verpflichtet, regelmäßig bei Tag und bei Nacht auf Patrouille zu sein, und Jilks kannte die kleinen Nebenstraßen gut. Die Wingham Road war die beste Route, entschied er, von dort würde er dann nach Boughton reiten. Wenn er Glück hatte, würde er den Hafen gegen Morgen erreichen, wenn er die Stute nicht zu hart antrieb.
Er wartete noch einen Moment, ehe er aus dem Haus ging. Es waren gute zehn Minuten her, seit Hawkwood mit McTurks Leiche gegangen war. Er wollte ganz sicher sein, dass die Luft rein war. Es schien still draußen. Jilks holte tief Luft, öffnete die Tür und ging zum Stall.
Die Stute stand fertig gesattelt in ihrer Box. Sie schnaubte leise, als Jilks eintrat.
»Ist schon gut, Mädchen«, flüsterte er und streichelte ihre Flanke. Er fragte sich, wo Esther war. Er steckte die Pistolen in die Taschen am Sattel, dabei bemerkte er, dass sein Säbel fehlte. Die Scheide hing vom Sattel, aber sie war leer. Merkwürdig, dachte Jilks, und versuchte sich zu erinnern, ob er ihn mit ins Haus genommen hatte.
»Esther?«, rief er.
Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Der Stich mit dem Säbel überraschte ihn vollkommen, er drang ohne Schwierigkeit durch seine Weste und in seinen Leib. Erst fühlte er nichts, aber als die Klinge ihren Weg weiter nahm, übermannte ihn der Schmerz und breitete sich wie flüssiges Feuer in seinem Körper aus. Jilks presste die Hände auf seinen Bauch und umklammerte die Klinge in dem verzweifelten Versuch, sie aufzuhalten, aber er spürte lediglich eine Taubheit in seinen Fingern, als auch sie von der scharfen Klinge zerschnitten wurden. Jilks starrte wie betäubt auf seine Mörderin, als sie die Klinge zurückzog. Seine Hände fühlten sich plötzlich warm an. Er sah an sich hinab und beobachtete erstaunt, wie der dunkle Fleck auf seiner Weste immer größer wurde und das Blut auf seine Stiefel tropfte. Stöhnend fiel er aufs Stroh. Merkwürdig, dachte er, dass seine Hände warm waren, wo doch der Rest von ihm so kalt war. Er wunderte sich noch immer darüber, als er seine Augen zum letzten Mal schloss.
Die Wache am Torgebäude trat vor und hob McTurks Kopf an. Beim Anblick der zerschmetterten Augenhöhle und der verklebten, blutigen Masse am Hinterkopf erkannte der Posten, wer es war, und sein Gesicht verdüsterte sich. Ohne ein Wort ließ er den Kopf wieder fallen und trat zur Seite.
Croker führte die Pferde hintereinander durch den Torbogen.
Der Ritt zurück zum Haunt war ohne Zwischenfälle verlaufen, bis auf eine Schrecksekunde nicht lange nachdem sie das Cottage verlassen hatten, als sie glaubten, Pferdegetrappel hinter sich zu hören. Sie hatten sich im Dickicht versteckt, doch nach zehn Minuten, als es keine Anzeichen einer Verfolgung gab, waren sie weitergeritten.
Die Laternen brannten, als sie in den Hof kamen. Aus den Stalltüren fiel Licht. Hawkwood hatte keine Uhr, doch er wusste, es war spät. Er überlegte, ob eine Ladung erwartet wurde oder ob es Schwierigkeiten mit dem neugeborenen Fohlen gäbe. Auf der Straße draußen waren keine gespensterhaften Mönche zu sehen gewesen.
Morgan tauchte in der Stalltür auf und wischte sich die Hände ab. Sein Blick fiel auf McTurks Pferd mit der Leiche auf dem Rücken. Er sah Croker an.
»Es ist gründlich schiefgegangen«, sagte der grimmig. »Dieser Bastard, Jilks - er hat Pat erledigt.«
»Wie ist das passiert?« Hawkwood fand, dass Morgan merkwürdig gefasst klang.
Croker deutete mit dem Kopf zu Hawkwood. »Frag ihn.«
»Das wollte ich gerade.« Morgan sah Hawkwood an. »Also?«
»Ihr Mann, Jilks, das war es, was passierte. Er hat sich stärker zur Wehr gesetzt, als wir erwartet hatten.«
»Erklären Sie.«
»Was gibt’s da zu erklären? Er hörte uns kommen und schoss auf uns. McTurk ist tot. Jilks lebt und wird weiterkämpfen. Ich vermute, er ist noch immer auf der Flucht.«
»Wir hielten es für das Beste, Pat mitzubringen«, sagte Croker, ohne Hawkwood anzusehen. »Es schien nicht richtig, ihn zurückzulassen.«
Abrupt drehte Morgan sich um. »Bringt ihn rein.«
Croker nahm McTurks Pferd am Zügel und führte es in den Stall, sein eigenes Pferd zog er nach. Hawkwood und Lasseur folgten ihm.
Der Stallbursche Thaddäus war in der ersten Box, wo er eine braune Stute trockenrieb. Als die Männer mit McTurks Leiche hereinkamen, hielt er erschrocken inne.
Morgan deutete auf die Leiche. »Hilf Jack, ihn runter zu heben.«
Hawkwood und Lasseur banden ihre Pferde fest, während Croker und der Stallbursche die Stricke lösten und die Leiche aufs Stroh legten. Im Laternenschein sah das Gesicht des Stallburschen gelblich und zerfurcht aus.
»Sieht aus, als hätten Sie Glück gehabt«, sagte Morgan, als Hawkwood und Lasseur ihre Sättel auf dem Balken über der Box verstauten.
»McTurk haben wir das jedenfalls nicht zu verdanken«, sagte Hawkwood. »Der hat einen Lärm gemacht, der Tote aufgeweckt hätte.«
»Tatsächlich?«, sagte Morgan und trat zurück. »Das war aber nicht, was ich gehört habe. Ich habe gehört, er sei sehr leise gewesen, und dass der arme Kerl gar nichts mehr mitbekommen hat. Wenn du soweit bist, Cephus.«
Pepper trat aus der Dunkelheit, eine Pistole in der rechten Hand. Er war nicht allein. Hinter ihm trat eine schlanke Gestalt vor. Hawkwood wusste, dass seine Schwierigkeiten erst jetzt richtig anfingen.
»Sie haben Esther bereits kennengelernt«, sagte Morgan.
Sie hatte ihr Kleid ausgezogen und mit einer kurzen Jacke und einer Reithose vertauscht. Ihr rotes Haar war im Nacken von einem Band zusammengehalten. Ihre Augen funkelten hasserfüllt. »Er war es«, sagte sie und deutete auf Hawkwood. Ihre Stimme war eiskalt.
Hawkwood sah sich nach einem Fluchtweg um. Der einzige Weg nach draußen war durch die Tür, und das war keine Option, denn die beiden Männer, die sich hinter der Tür versteckt hatten, traten jetzt ins Licht. Auch sie hatten Pistolen, außerdem hatte jeder von ihnen einen Schlagstock am Gürtel. Einer von ihnen war Del.
»Eine Bewegung, und Sie sind tot«, sagte Morgan. »Sie auch, Captain Lasseur.«
Hawkwood stand still, etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Lasseur hob die Hände und sah sich um. »Was ist denn hier los?«
Croker stand auf, auch er war völlig verwirrt. »Was zum Teufel geht hier vor?«
»Wir sind hinters Licht geführt worden, Jack«, sagte Morgan. »Wir haben einen neuen Fuchs im Hühnerstall.« Er sah Lasseur an. »Vielleicht sogar zwei.«
»Was?«
»Es sieht aus, als ob unser Captain Hawkwood etwas sparsam mit der Wahrheit umgegangen ist. Wie sich’s herausstellt, ist er gar kein geflüchteter Gefangener. Vielleicht ist er nicht mal ein Captain. Und ein Amerikaner ist er erst recht nicht.«
»Wovon redest du?«
»Er ist ein Gesetzeshüter, Jack, der uns ausspionieren soll. Und er heißt auch nicht Hooper, sondern Hawkwood. Und laut Esther hier ist er ein Sonderermittler, der für - was war es gleich wieder - für Bow Street arbeitet? Du weißt doch, was das heißt? Ich vermute, wir haben uns hier einen verfluchten Runner eingefangen!«