»Um Gotteswillen!« Croker zeigte die Zähne und griff instinktiv nach seiner Pistole.
»Nein!«, sagte Morgan scharf. »Nicht hier. Nehmt ihnen die Waffen ab.«
»Er hat Pat umgebracht«, sagte das Mädchen, ihr schmales Gesicht wirkte im Laternenlicht kantig. »Hat ihn kaltblütig erschossen, das mörderische Schwein!«
»Und deshalb nehmen wir ihnen ja die Waffen ab«, sagte Morgan geduldig. Er gab den Männern an der Tür ein Zeichen. Zu Hawkwood und Lasseur sagte er: »Pistolen herausnehmen. Mit Daumen und Zeigefinger. Auf den Boden legen. Zurücktreten.«
Die beiden taten, wie ihnen geheißen wurde. Morgans Männer hoben die Waffen auf.
Lasseur starrte das Mädchen an. »Wer ist diese Frau? Was erzählt sie da?«
Morgan tat überrascht. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Esther, das ist Captain Lasseur. Captain, darf ich Ihnen Esther vorstellen. Sie gehört zur Familie, Tochter einer Cousine von mir. Großartiges Mädchen, scharfer Verstand, genau wie ihre Mutter, Gott hab sie selig. Esthers Vater wurde vor fünf Jahren von Zöllnern umgebracht. Ihr Bruder Tom wurde vor zwei Jahren geschnappt, sieben Jahre Verbannung. Übrigens war er drei Monate auf den Hulks, ehe er verschickt wurde. Ist’ne kleine Welt, nicht wahr? Folglich hat sie natürlich für Zöllner und fürs Gesetz überhaupt nicht viel übrig, also hat es auch keinen Zweck, an ihr gutes Herz zu appellieren - sie hat keins. Deshalb haben wir sie auch für Officer Jilks arbeiten lassen. Sie wurde seine Haushälterin, damit sie ihn für uns im Auge behalten konnte. Wie sagt man doch? Halte dich eng an deine Freunde, aber noch enger an deine Feinde? Esther hier hatte einen wahren Schatz an Informationen.«
»Ach ja, und übrigens, Captain - Officer - Hawkwood, oder was zum Teufel Sie sich auch nennen mögen, nur damit Sie’s wissen: Jilks wird auch Ihre Nachricht nicht überbringen. Er hat’s leider nicht ganz geschafft. Dafür hat Esther gesorgt. Sie brauchen sich deshalb aber keine Gewissensbisse zu machen. Ihr Besuch hat sein Ende nicht sonderlich beschleunigt. Seine Tage waren sowieso gezählt.«
Morgan lächelte. »Erinnern Sie sich an unser Gespräch, als Sie mich über den Zwischenfall in Warden fragten und ich sagte, wir hätten immer Verstärkung in Reserve? Tja, das ist unsere Esther. Sie war schon drauf und dran, sich um Jilks zu kümmern, aber dann schien es eine gute Idee, dass Sie und Captain Lasseur ihr die Arbeit abnehmen könnten. Da sieht man mal wieder, wie schwer es ist, heutzutage zuverlässige Hilfskräfte zu finden.
Ich muss sagen, dass Esther es gut gemacht hat. Hat sogar sein Pferd genommen und ist hergekommen, um uns zu warnen. Sie hatte Angst, dass sie Ihnen unterwegs begegnen könnte, aber sie hatte Glück, sie nahm einen anderen Weg. Und war vor Ihnen hier. Das dort ist Jilks’ Stute, die Thaddäus gerade trockenreibt.«
Das Pferdegetrappel, das sie gehört hatten: Es war Esther gewesen, die sie in der Dunkelheit überholt hatte.
»Der Froschfresser ist auch darin verwickelt?«, knurrte Croker mit kaltem Blick auf Lasseur.
Morgan betrachtete Lasseur, auf seinem Gesicht lag ein sarkastisches Grinsen. »Ja, das ist wirklich eine sehr gute Frage.«
»Captain Lasseur hat von allem nichts gewusst«, sagte Hawkwood.
»Tatsächlich?« Morgan sah Lasseur an. »Sie hatten tatsächlich keine Ahnung, dass Ihr Captain Hooper in Wahrheit ein Polizist ist?«
Lasseur starrte Hawkwood an.
»Oh, ich gebe zu, er ist schon etwas Besseres als die anderen«, sagte Morgan aufgeräumt. »Gibt sich als Yankee aus. Und so gut, wie er Französisch spricht - aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er ein verdammter Spion ist. Er hätte uns alle auflaufen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.«
Hawkwood zuckte die Schultern. »War nichts Persönliches, Captain. Rein geschäftlich.«
Morgan sah nachdenklich aus. »Wenn ich ganz ehrlich bin, verstehe ich nicht, was für ein Motiv Sie haben sollten, ihm zu helfen; und deshalb neige ich dazu, Officer Hawkwood hier zu glauben, wenn er sagt, Sie hatten von allem genausowenig Ahnung wie wir. Das ist wirklich ein Dilemma.«
»Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, sagte Pepper. Er sah Morgan eindringlich an.
»Gibt’s einen?«, sagte Morgan. Doch als Pepper ihm seine Pistole reichte, lächelte er. »Also, warum ist mir das nicht eingefallen? Tja, dann, Captain, bedienen Sie sich.« Morgan hielt ihm die Pistole hin.
»Was soll das?«, sagte Lasseur.
»Ihre Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. Wenn Sie wirklich derjenige sind, der Sie zu sein vorgeben, dann hat er Sie an der Nase herumgeführt. Soll er damit davonkommen? Hier, nehmen Sie schon. Bringen Sie das Miststück um.«
Lasseur zögerte. Dann nahm er zögernd die Waffe. Croker machte ein skeptisches Gesicht. Er nahm seine Pistole und zielte auf Lasseur.
»Erschieß mich ruhig«, sagte Hawkwood. »Sie werden lediglich einen Neuen schicken.«
Morgan lachte. »Dann wird es aber leider zu spät sein.«
»Man wird Sie fassen, Morgan. Sie kommen in Teufels Küche.«
»Komisch, das hat der Navyleutnant auch gesagt. Ich habe seinen Namen schon wieder vergessen. Wie hieß er noch, Cephus?«
»Sark«, sagte Pepper.
»Nein, der nicht. Der Erste.«
»Masterson?«
»Genau, der war’s! Schwafelte dauernd davon, dass, wenn wir ihn umbringen, die Navy einen Neuen hinterherschicken würde.«
»Haben sie ja auch«, sagte Pepper. »Sie schickten Sark.«
»Und wir alle wissen ja, was mit dem passiert ist!« Morgan grinste Hawkwood an. »Ich vermute, man hat Sie geschickt, um die anderen beiden zu suchen - hab ich Recht? Ich frage mich nur, warum man diesmal einen Runner genommen hat. Na ja, vielleicht gehen der Navy die Leutnants aus. Mein Gott, man sollte doch denken, dass die’s inzwischen gelernt haben, nicht wahr?« Er wandte sich an Lasseur. »Wenn Sie es machen, Captain, dann wäre jetzt der richtige Moment. Erlösen wir das Arschloch doch endlich.«
Lasseur sah Hawkwood an. Sein Gesicht war grau und trostlos wie ein Winterhimmel.
Dann hob er die Pistole und schoss.
18
»Sie sagen, er ist jetzt seit zwölf Tagen verschwunden?«, fragte Jago.
James Read nickte.
Sie waren in Reads Büro. Der oberste Richter saß an seinem Schreibtisch. Jago stand mit dem Rücken zum Fenster. Es war später Abend. Die Dunkelheit draußen spiegelte die Stimmung im Raum wider.
»Das ist nicht gerade sehr lange. Der Captain ist ein erwachsener Mann. Er wird schon auf sich aufpassen. Wann haben Sie denn zuletzt etwas von ihm gehört?«
»Die letzte konkrete Nachricht kam vor sechs Tagen, doch auch nicht von Hawkwood selbst. Wir bekamen einen Bericht von Ludd, in dem er uns mitteilte, dass Officer Hawkwood und Lasseur, der Privateer, vom Schiff geflohen sind.« Read unterbrach sich, dann sagte er: »Ludd schrieb, dass die beiden ein ziemliches Chaos hinterlassen hatten.«
Jago wollte gerade sagen: Auch da hat sich also nichts geändert, doch als er das Gesicht des Obersten Richters sah, schwieg er lieber.
»Was für ein Chaos?«, fragte er schließlich vorsichtig.
»Fünf Tote, darunter ein Kind.«
Jago sah Read entsetzt an. »Was?«
»Soweit ich hörte, war das Kind - ein kleiner Junge - in großer Gefahr. Hawkwood und Lasseur wollten ihm helfen und mussten sich dabei gegen schwere tätliche Übergriffe zur Wehr setzen. Zumindest war das die Erklärung, die man dem Commander des Schiffs gab. Captain Ludd untersucht noch immer die Hintergründe. Wie es aussieht, hat der Commander, ein Leutnant Hellard, die Sache auf eine Art und Weise gehandhabt, die über die disziplinarischen Grenzen der Royal Navy hinausgeht, zumindest was die Behandlung Kriegsgefangener angeht. Er wird sich vor einem Untersuchungsausschuss verantworten müssen und wird wohl kaum ungeschoren davonkommen. Wenn er gedacht hatte, dass man nicht mehr tiefer sinken kann, als ein Gefängnisschiff zu befehligen, dann wird er wohl noch einiges dazulernen.«