Sie standen draußen und sahen, dass die Abenddämmerung begonnen hatte. Sie waren mehr als drei Stunden in dem Keller gewesen. Alle vier mussten irgendwann eingeschlafen sein. Der Rauch war nicht in den Kellerraum gedrungen, denn die Außenwand der Vorratskammer war eingestürzt, so dass der Rauch sich verflüchtigen konnte.
Der Rest des Hauses war ebenfalls eine Ruine; eine Hülle aus geschwärzten Ziegeln und verkohlten Balken. Von den Möbeln war nichts übrig geblieben, das meiste war zu Holzkohle und Asche verbrannt. Der Rauchgestank war überwältigend.
Jess Flynn kniete auf dem Boden und stützte Tom Gadd, der aus einer Feldflasche trank, die Jago im Bach gefüllt hatte. Der alte Mann war sehr durstig. Seine Augen waren offen und er blickte umher. Jetzt, wo er an der frischen Luft war, wirkte er munterer. Lasseur saß neben ihr, er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und betrachtete die Verwüstung. Neben ihnen lag der Hund, den Kopf auf den Pfoten. Er sah aus, als schliefe er.
Jago wandte sich an die beiden Männer hinter ihm.
Hawkwood sah einen Mann von ähnlichem Körperbau wie Jago; untersetzt und stämmig, mit breitem Gesicht und den Händen eines Bauern. Der zweite Mann war jünger. Schlank, aber muskulös, mit kräftigen, klaren Gesichtszügen und dunklen Augen. Er betrachtete Hawkwood kühl und abschätzend.
»Erinnerst du dich an Micah?«, fragte Jago.
»Natürlich«, sagte Hawkwood.
Micah nickte. »Captain.«
»Und das hier ist Jethro Garvey.« Jago deutete mit dem Kopf auf den ersten Mann.
»Tag, Jethro«, sagte Hawkwood.
»Seht euch mal ein bisschen um«, sagte Jago zu den beiden.
Die beiden Männer entfernten sich.
»Wer ist Garvey?«, fragte Hawkwood.
Jago dachte einen Augenblick nach. »Der ist sozusagen mein Vertreter in dieser Gegend.«
»Wie zum Teufel hast du mich gefunden?« Hawkwood konnte es noch immer nicht glauben, dass es wirklich Jago war, der vor ihm stand, und kein Phantom oder weiteres Traumgespinst, wie er sie im Keller gesehen hatte.
»Dein Boss machte sich Sorgen, als er nichts mehr von dir hörte. Er ließ mich kommen. Er denkt offenbar, dass du allein nicht klarkommst.«
»Er tat was?«
»Erzählte mir von deinem Auftrag. Euer Mann Ludd schickte einen Bericht nach Bow Street, dass man dich und den Captain möglicherweise sah, wie ihr in Warden in ein Boot gestiegen seid. Ich dachte, das könnte ein ebenso guter Anfang sein wie jeder andere. Ich hatte ein ruhiges Gespräch mit dem Wirt dort, Abraham heißt er. Sehr hilfsbereiter Mann. Ist anscheinend eine häufig benutzte Route für geflohene Gefangene - und nicht nur Ausländer. Jedenfalls bestätigte er, dass ein Amerikaner und ein französischer Offizier in der bewussten Nacht in einem Boot nach Seasalter gefahren sind.«
Hawkwood überlegte, welcher Art dieses »ruhige Gespräch« wohl gewesen sein mochte, das Jago mit dem Wirt geführt hatte.
»Aber wie hast du denn hierhergefunden?«, fragte Hawkwood.
»Kennst du einen Mann namens Higgs?«
Jess Flynn sah hoch.
»Der Totengräber«, sagte Hawkwood.
Jago nickte. »Genau der. Abraham sagte, das sei der nächste in der Reihe. Ich stöberte ihn in seinem Pub auf; dem Blind Hog - eine ziemlich miese Spelunke. Zuerst wollte er nicht so recht raus mit der Sprache, aber es ist schon beachtlich, wie ein paar Gläser Grog die Zunge lösen, wenn er erstmal in der richtigen Stimmung ist.«
Hawkwood entnahm Jagos Gesichtsausdruck, dass sich die »richtige Stimmung« vielleicht erst eingestellt hatte, nachdem Jago Higgs’ Kronjuwelen etwas fester gedrückt hatte, oder dass die Drohung geholfen hatte, ihm seine restlichen Finger auch noch abzuschneiden.
»Unser Asa«, sagte Jago, »erzählte uns allen möglichen Klatsch, wie er den Yankee und den Franzosen erst hierhergebracht hatte und anschließend zu Ezekiel Morgans Anwesen. Und, was noch viel interessanter war, dass Morgan jetzt sogar eine Belohnung ausgesetzt hatte für den Yankee und seinen Kumpel, weil er eigentlich gar kein Yankee war, sondern’n verdammter Runner!
Dann erzählte er mir von’nem Trinkgelage, das er mit’nem Arschkriecher namens Tyler hatte. Anscheinend war Tyler ganz Ohr, als er hörte, dass Morgan dem Runner und dem Franzosen ans Leder wollte. Faselte davon, dass es dem Froschfresser ganz recht geschieht, weil er sich an unsere Frauen ranmacht.«
Lasseur und Jess Flynn sahen sich an.
»Higgs dachte, Tyler könnte eine bestimmte Frau gemeint haben, weil es doch die Farm seiner Schwägerin war, auf der die beiden untergebracht waren. Er sagte, als er euch beide abholte, hatte er den Eindruck, dass sich die Witwe und der Captain inzwischen ein bisschen nähergekommen waren, als es zwischen Wirtin und Untermieter üblich war, wenn du verstehst, was ich meine. Und das brachte mich auf einen Gedanken: Wenn ich auf der Flucht wäre und mich irgendwo verstecken wollte, wohin würde ich gehen? Dahin, wo ich ein freundliches Gesicht antreffen würde, genau. Also dachte ich, dass ich Mrs. Flynns Farm vielleicht mal einen Besuch abstatten sollte, auch wenn’s nicht mehr bringen würde als nur zusätzliche Information. Wie sich’s herausstellte, war es’ne gute Idee. Aber wenn wir den Hund nicht gehört hätten, hätten wir euch vielleicht nicht gefunden. Wir wollten gerade wieder gehen.«
Also hatte Higgs auch gesehen, wie Lasseur and Jess Flynn sich beim Abschied berührt hatten, dachte Hawkwood. Eine so unbedeutende Geste, die zu unvorstellbaren Konsequenzen geführt hatte.
»Nathaniel …«
Jago drehte sich um. Es war Garvey. Er war allein, sein Gesicht war düster. »Komm mal mit, ich glaube, du solltest dir das ansehen.«
Jago, Hawkwood und Lasseur ließen Jess bei Tom Gadd und gingen mit Garvey zur Scheune.
Micah hatte eine Laterne gefunden. Er hielt sie hoch, so dass alle sehen konnten.
Die Leichen waren mit Stroh bedeckt. Es waren sechs; drei lagen mit dem Gesicht nach oben, die anderen lagen auf dem Bauch.
»Das ist Tyler«, sagte Hawkwood und deutete auf eine der Leichen.
Tylers Mund war noch immer weit offen, genau wie seine Augen; ein Mann, der vom Tod überrascht worden war. Beim Licht der Laterne hatte sein Gesicht die Farbe von ranzigem Käse.
»Kennst du die, Jethro?«, fragte Jago.
Garvey sah hinunter auf die Leichen und nickte grimmig.
Hawkwood fragte sich, was Jago mit »mein Vertreter in dieser Gegend« gemeint hatte.
»Ich nehme an, das geht alles auf euer Konto«, sagte Jago. »Willst du mir etwas darüber erzählen?«
»Später«, sagte Hawkwood.
»Sie haben die Pferde auch dagelassen«, sagte Lasseur. Er stand vor dem Scheunentor und sah hinüber zur Koppel.
»Warum haben sie das wohl gemacht?«, fragte Jago.
»Weil sie es eilig hatten«, sagte Hawkwood. »Wahrscheinlich wollten sie später zurückkommen und sie holen.«
»Wer ist ›sie‹?«, fragte Jago.
»Ein Mann namens Pepper und drei Überlebende seiner Bande.«
Garvey sah ihn an.
Im Wald schrie eine Eule.
Jago sagte: »Meinst du Cephus Pepper?«
»Du kennst ihn?«
»Ich habe von ihm gehört. Warum sollten die es so eilig haben?«
»Sie hatten einen Termin.«
»Mit wem?«
»Mit Morgan«, sagte Hawkwood.
»Gibt’s da noch was, was du mir noch nicht erzählt hast?«, fragte Jago.
»Sehr viel, aber jetzt ist keine Zeit dazu.«
»Warum nicht?«
»Ich habe auch einen Termin.«
»Lass mich raten«, sagte Jago. »Am selben Ort?«
»Ja.«
»Und wo ist das?«
»In Deal.«
»Und ich vermute, das kann nicht warten?«
»Nein.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Kann schon sein«, sagte Hawkwood.
»Mein Gott«, Jago schüttelte den Kopf. »Die können mich wirklich bald mit auf ihre Gehaltsliste setzen. Micah, bring die Pferde her.«