Die Zeit war ihm günstig. Der Mesmerismus machte Furore, gerade weil er voller Rätsel war. In Zeiten, die großen Umwälzungen vorangehen, sind die Geister in fiebriger Erregung. Ob man die Veränderung herbeiwünscht oder davor zurückschreckt, alles spürt voll Unruhe das nahe Ende des Bestehenden. Frankreich befand sich in einem solchen Stadium. Man suchte Sensationen. Wer immer sie bot, war willkommen. Das Erscheinen einer neuen Oper beschäftigte die Gemüter mehr als der Friedensvertrag mit England oder die Anerkennung der Vereinigten Staaten. Nachdem die Philosophen dafür gekämpft hatten, daß man die Wahrheit der Dinge erkenne, war man dieser Wahrheit, die zugleich Desillusio-nierung brachte, dieser Erkenntnisse des Möglichen leid und suchte die Grenzen der Wirklichkeit zu durchbrechen, in die Welt der Träume und Mysterien vorzudringen.
So wurden die Franzosen auf schier unwiderstehliche Weise von jenem rätselvollen Mesmerischen Fluidum angelockt, das nach Behauptung der Anhänger dieser Lehre die Kranken gesund, die Narren verständig und die Verständigen närrisch machte.
Überall sprach man von Mesmer. Was hatte er getan? Welchem hohen Herrn hatte er die Sehkraft wiedergegeben? Welcher von Ausschweifung zerrütteten Dame hatte er die Lebensgeister neu gestärkt? Welches junge Fräulein hatte er in einer Nervenkrise die Zukunft sehen lassen?
Die Zukunft - magisches Wort, die große Neugier aller Zeiten, Lösung sämtlicher Probleme! Was war dagegen die Gegenwart?
Ein Königtum, das seine Strahlen eingebüßt hatte, eine Oberschicht, die keine Autorität mehr genoß, ein Land ohne wirtschaftliche Blüte, ein Volk ohne Rechte, eine Gesellschaft ohne Zuversicht, ohne Selbstvertrauen.
All das vergessen, nur an sich selber denken, aus neuen, wunderbar anmutenden Quellen die Gewißheit längeren Lebens und unzerstörbarer Gesundheit schöpfen, dem geizigen Himmel etwas entreißen - war das nicht das Ziel des leicht begreiflichen Strebens nach dem Unbekannten, von dem Mesmer ein Stück entschleierte?
Voltaire war tot; es gab in Frankreich kein Gelächter mehr, ausgenommen das von Beaumarchais, aber es war weit bitterer als das des Meisters. Rousseau war tot; es gab in Frankreich keine religiöse Philosophie mehr. Rousseau hatte Gott bestehen lassen wollen; aber seit Rousseau nicht mehr war, traute sich niemand eine solche Aufgabe zu, ihre Schwere hätte ihn zermalmt.
Was Wunder also, daß man um Mesmers Bottich zusammenströmte, ob krank, ob gesund, wie zu einem faszinierenden Schauspiel. Wir erinnern uns, sogar die Königin wollte sehen, was alle Welt anzog.
Zwei Tage nach dem Besuch des Kardinals bei Jeanne de La Motte machte sich Marie-Antoinette in Begleitung der Prinzessin de Lamballe dorthin auf den Weg. Wie aber war auch Madame de La Motte auf die Idee gekommen, am selben Tag auf der
Place Vendome vor dem noblen Haus des Doktors Mesmer auszusteigen?
Schon dunkelte es. Das Haus war hell erleuchtet. Zwei- bis dreihundert Neugierige drängten sich um die Auffahrt, wo eine Menge Gefährte aller Art bereits standen oder noch haltmachten.
Die Kranken, fast ausnahmslos reiche Leute, fuhren in wappengeschmückten Equipagen vor, ließen von ihren Lakaien sich heraustragen, und diese vornehmen Krüppel in ihren teuren Pelzen waren kein geringer Trost für die ausgehungerten, armselig bekleideten Schaulustigen: sie labten sich an dem sichtbaren Beweis, daß das Schicksal die Gebrechen dieser Erde verteilt, ohne auf Stammbäume Rücksicht zu nehmen.
Da die Menge die adligen Herren und Damen, die bei Mesmer Heilung von den Folgen ihrer leichtfertigen Lebensweise oder von sonstigen Leiden suchten, zumeist leicht erkannte und ihre Namen laut verbreitete, trug so mancher der Ankommenden eine Maske vor dem Gesicht. Überdies war an diesem Abend Opernball, und nicht wenige gedachten, von Mesmers Künsten neu belebt, von der Place Vendome geradewegs zur Oper zu eilen.
Ebenfalls maskiert, betrat Jeanne das Haus. Die kleine goldene Dose, die den Kardinal so erstaunt hatte, trug sie bei sich. War das Zufall?
Wer in den Vorzimmern bei den diensthabenden Geistern des Hauses sich ausgewiesen hatte, wurde in einen Saal eingeführt, in den die hermetisch geschlossenen Fenster weder das Tageslicht noch die Geräusche der Außenwelt dringen ließen. Mitten in dem Saal, unter einem Kronleuchter, der spärliches Licht verbreitete, stand der geheimnisumwobene große metallene Bottich, mit einem Deckel verschlossen.
Was enthielt er? Nichts leichter zu sagen.
Er war fast bis oben mit schwefelhaltigem Wasser angefüllt. Das Wasser konzentrierte seine Ausdünstungen unter dem Deckel. Zugleich speiste es etliche am Boden des Gefäßes umgekehrt aufgereihte Flaschen.
So ergab sich eine Kreuzung geheimnisvoller Strömungen, von deren Einfluß die Kranken sich Heilung erhofften.
Dem Deckel war ein eiserner Ring aufgelötet, an dem eine lange Schnur befestigt war, deren Bestimmung wir erfahren, indem wir einen Blick auf die Kranken werfen.
Diese, Männer wie Frauen, saßen bleich und matt rings um den Bottich in Lehnstühlen und erwarteten gleichmütig, ernst oder unruhig, daß an ihnen ein Wunder sich vollzöge.
Ein Gehilfe nahm die Schnur, wickelte sie jedem Patienten nacheinander als Ring um die kranken Glieder und bildete derweise eine Kette, durch die die Wirkung der heilbringenden Elektrizität sich fortpflanzen sollte. Überdies mußten auf Geheiß des Doktors die Kranken einander mit den Ellbogen oder Schultern berühren, um die Strömung der animalischen Fluida nicht zu unterbrechen. Dann wies der Mann, ehe er sich zurückzog, einem jeden der zwanzig bis dreißig Umsitzenden einen Eisenstab zu, der mit dem Bottich verbunden war und den ein jeder zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Spitze gegen sein Herz oder den Kopf oder den besonderen Sitz seines Leidens drücken sollte.
Sowie die Sitzung eröffnet war, begann sanfte, allmählich durchdringende Wärme in dem Saal sich zu verbreiten. Sie ließ die gespannten Nervenfibern der Patienten erschlaffen; nach und nach stieg sie zur Decke empor, und bald lud sie sich auf mit köstlichen Düften, denen auch die widerspenstigsten Gehirne betäubt sich beugten.
Die Zuschauer, die zahlreich in dem Saal zugegen waren, sei es aus Interesse an der Mesmerischen Methode, sei es, um die Kranken zu beobachten, sahen, wie diese der wohligen Atmosphäre sich ganz überließen, als nun von unsichtbaren Musikern und ihren Instrumenten süße, vibrierende Klänge ausgesandt wurden. Sie wirkten mit unwiderstehlicher Macht auf die Nerven. Es war, als hätte die Natur selber sie hervorgebracht, so fremd, so wunderbar, wie sie sogar Tiere zu bezaubern vermögen, Klage des Windes in klingenden Felsensäulen.
Bald mischten sich Stimmen in die zauberischen Klänge, und auf allen Gesichtern, die zuerst nur Überraschung gezeigt, malte sich nach und nach Befriedigung. Die Seele gab nach; sie verließ den Schlupfwinkel, worin sie sich verbirgt, wenn körperliche Leiden sie befallen, und breitete sich frei und beglückt über den ganzen Organismus aus; sie beherrschte die Materie.
Dies war der Augenblick, da jeder Kranke den Eisenstab ergriff und ihn mit den Fingern an den besonderen Sitz seines Leidens drückte.
Man stelle sich vor, wie auf alle Gesichter, die anfangs Leiden, Mattigkeit und Angst verraten hatten, nun vollends Glückseligkeit, entrücktes Insichversenken trat, man stelle sich das Schweigen vor, von Seufzern unterbrochen, das über der Versammlung lag!
Jeanne de La Motte hatte unter den Zuschauern einen Standort nahe der Tür gewählt, von dem sie sah, ohne gesehen zu werden. Wie alle Schaulustigen blickte sie mit besonderer Aufmerksamkeit nach einer schönen jungen Frau in der Schar der Patienten. Mit dem Eisenstab, den sie heftig an ihren Kopf und ihren Magen preßte, brachte sie sich selbst die stärksten Dosen des Fluidums bei, begann, die schönen Augen zu rollen, als ob alles in ihr verschmachtete, und ihre Hände zitterten unter dem ersten nervösen Prickeln, das die Übertragung des magnetischen Fluidums anzeigt.