Wenn sie den Kopf auf die Rücklehne warf, konnten die Anwesenden nach Gefallen die blasse Stirn, die zuckenden Lippen und den schlanken Hals betrachten, der alsbald durch die raschere Blutzirkulation sich mit Flecken überzog.
Was unter den Zuschauern jedoch einige den anderen zuflüsterten und die Aufmerksamkeit für die konvulsivisch erregte Frau erhöhte, bewegte auch Jeanne.
War dieses Gesicht, sooft es seine Züge auch verwandelte, nicht genau das jener Dame von der Versailler Wohlfahrtsstiftung, der sie ihren Reichtum verdankte? Und begierig näherte sie sich der Kranken.
In dem Augenblick schloß die Konvulsionärin die Augen, verzerrte den Mund und schlug fahrig mit den Händen um sich.
Aber diese Hände waren durchaus nicht die feinen, schmalen Hände von wächserner Weiße, die Madame de La Motte an ihrer Besucherin bewundert hatte.
Durch die Übertragung von einem zum anderen waren unterdessen die meisten Patienten von der elektrischen Krise erfaßt. Seufzer, Gemurmel, Schreie wurden hörbar; Arme, Beine, Köpfe bewegten sich unbewußt wie zuvor bei der jungen Frau. Jetzt erschien ein Mann in dem Saal. Niemand hatte ihn eintreten sehen; sein fliederfarbener Rock, sein mildes Auge, sein schönes blasses Antlitz, klug und heiter zugleich, gaben seinem Auftritt etwas beinahe Göttliches. Er hielt einen langen Stab in der Hand, mit dem er den berühmten Bottich berührte.
Er gab ein Zeichen: die Türen öffneten sich, und zwanzig kräftige Diener ergriffen gewandt die Patienten, die auf ihren Lehnstühlen das Gleichgewicht zu verlieren begannen, und trugen sie binnen einer Minute in den benachbarten Saal.
Während dieses Vorgangs, der interessant geworden durch den Paroxysmus unumschränkter Glückseligkeit, dem die junge Kon-vulsionärin hingegeben war, hörte Madame de La Motte, die mit den übrigen Neugierigen sich dem zweiten Saal genähert hatte, einen Mann rufen: »Das ist sie! Natürlich ist sie das!«
Jeanne wollte den Herrn eben fragen, wen er mit »sie« meine, als sie, dem raschen Auge des Mannes folgend, zwei Damen gewahrte, die eben den ersten Saal betraten, hinter sich in eini-gem Abstand einen Mann, der als vertrauter Diener erkennbar war, obschon er bürgerliche Kleidung trug. Die Haltung einer der beiden Frauen, ihr Gesicht, so verhüllt es von einer Haube und einem hochgestellten Kragen war, verblüfften Jeanne der-weise, daß sie nähertreten wollte. Doch ein wilder Aufschrei der Elektrisierten im Nebensaal lenkte sie erneut dorthin. Da hörte sie denselben Mann, der soeben gesprochen, dumpf und geheimnisvoll aufs neue sagen: »Aber meine Herren, sehen Sie doch, das ist die Königin!«
»Die Königin!« wiederholten erstaunte Stimmen.
»Die Königin bei Mesmer! Unmöglich.«
»Und doch, die Ähnlichkeit ist unverkennbar!«
»Die Königin in einer Krise!«
Damit wandte sich der Mann weiteren Gruppen zu, denen er die gleiche Mitteilung zuraunte.
Jeanne wandte sich von dem skandalösen Schauspiel ab, das die Konvulsionärin bot, und eilte den beiden Damen zu, die jetzt voll Interesse den Bottich samt Zubehör betrachteten. Sie riß ihre Maske ab und trat erregt vor die Dame hin.
»Erkennen Sie mich?« fragte sie.
Die Frau unterdrückte sichtlich eine Bewegung.
»Nein, Madame«, antwortete sie befangen.
»Aber ich erkenne Sie, und zum Beweis dafür sehen Sie dies.«
Damit zog Jeanne die goldene Dose aus der Tasche.
»Sie haben sie bei mir vergessen, Madame.«
»Und wäre dem so, weshalb sind Sie so aufgeregt?«
»Ich bin erschrocken über die große Gefahr, der Eure Majestät an diesem Ort sich aussetzen.«
»Erklären Sie sich.«
»Nicht bevor Sie diese Maske angelegt haben.«
Und Jeanne drängte die Königin, die peinlich berührt zögerte, ihre Seidenmaske zu nehmen.
»Um Himmels willen, tun Sie es, und dann rasch fort.«
»Ja aber ...«, erwiderte die Königin, indem sie die Maske anlegte, »sagen Sie doch, um was es geht.«
Aber Jeanne zog die Damen so behende mit sich, daß sie erst vor dem Haus zu Atem kamen.
»Majestät ist von niemand gesehen worden?« fragte sie.
»Ich denke nicht. Aber erklären Sie endlich ...«
»Bitte, Majestät, glauben Sie für den Augenblick Ihrer getreuen Dienerin, eilen Sie fort, und erlauben Sie, daß ich Eurer Majestät mein Verhalten begründe, sofern Sie geruhen wollten, mir eine Audienz zu gewähren.«
Die Königin wechselte einen Blick mit Madame de Lamballe, die ihrerseits sehr geneigt schien, Jeannes Warnung zu befolgen.
»Schön«, sagte die Königin, »bringen Sie mir die Dose und verlangen Sie den Pförtner Laurent; er wird unterrichtet sein.«
Weber war mit der Kutsche im Nu zur Stelle, und die Damen fuhren davon.
So weit, so gut, sagte sich Jeanne befriedigt, bedenken wir jetzt das weitere.
Fräulein Oliva
Unterdessen war der Mann, der die Blicke der Anwesenden auf die angebliche Königin gelenkt hatte, zu einem der gierig Schauenden in schäbigem Anzug getreten.
»Für Sie als Journalist«, sagte er, »wäre das doch großartiger Stoff für einen Artikel.«
»Zum Beispiel?«
»Etwa so: Von der Gefahr, Untertan in einem Land zu sein, dessen König von der Königin regiert wird und dessen Königin Krisen liebt.«
Der Zeitungsmann lachte.
»Und die Bastille?«
»Wozu gibt es Anagramme? Kann der königliche Zensor Ihnen verbieten, die Geschichte eines Fürsten Silou und einer Fürstin Etteniotna, Herrscherin von Narfec, zu erzählen?«
»Herrlich!« rief der Zeitungsmann entflammt. »Die Idee ist großartig!«
»Und ein Kapitel müßte heißen: Die Krisen der Fürstin Etteniotna bei dem Zauberer Remsem. Das gäbe einen hübschen Erfolg in den Salons, wie?«
Der Journalist drückte dem Fremden die Hand.
»Darf ich Ihnen ein paar Exemplare zuschicken? Es wäre mir eine Freude«, sagte er, »wenn Sie mir Ihren Namen nennen wollten.« »Gewiß, Monsieur. Wieviel drucken Sie für gewöhnlich von Ihren kleinen Pamphleten?«
»Zweitausend.«
»Nehmen Sie diese fünfzig Louisdors und drucken Sie sechstausend. In acht Tagen lasse ich tausend Stück zu zwei Livres bei Ihnen holen.«
»Monsieur ...! Ich versichere Sie, ich werde Tag und Nacht arbeiten.«
»Und Paris wird Tränen lachen, bis auf eine Person.«
Und der dicke Fremde beurlaubte den Schreiber, der, seine fünfzig Louisdors in der Tasche, leicht wie ein Vogel enteilte.
Der freigebige Herr fuhr in der Beobachtung der jungen Frau fort, die nach ihrer Ekstase jetzt in völlige Lethargie verfallen war.
Die Ähnlichkeit ist tatsächlich verblüffend, dachte er. Der Himmel hatte seine Absichten, als er sie schuf; er hat die andere, der sie gleicht, im vorhinein verurteilt.
Die junge Frau erhob sich jetzt, ein wenig schwankend noch, und ordnete unter leichtem Erröten ihre in Unordnung geratene Toilette. Der unermüdliche Fremde aber hatte eine weitere Ansammlung zustande gebracht, die er aufforderte, die »Königin« zu grüßen, wie es ihr gebührte.
Verschüchtert über so viele Respektsbezeigungen, begab sich die junge Person aus dem Haus. Ihre müden Augen suchten eine Sänfte. Da trat ein Lakai auf sie zu.
»Madame befehlen den Wagen?«
»Den Wagen?« wunderte sie sich. Und sie dachte, als sie die Kutsche bestieg, daß der Doktor Mesmer doch ein überaus galanter Mann war, seine Patienten in einer so hübschen Equipage heimfahren zu lassen.