»Madame, die Züge Ihrer Majestät sind in die Herzen all ihrer Untertanen tief eingegraben. Wer Ihre Majestät einmal gesehen hat, trägt Ihr Bild in sich.«
Philippe sah Andree an, Andree tauchte ihre Blicke in die Philip-pes. Beider Schmerz, beider Eifersucht schlossen ein schmerzliches Bündnis.
»Monsieur«, sagte die Königin, auf Charny zutretend, »ich versichere Ihnen, daß ich nicht auf dem Opernball war.«
Der junge Mann verneigte sich tief bis zur Erde.
»Steht es Ihrer Majestät nicht frei, dahin zu gehen, wohin zu gehen Ihnen beliebt? Und wäre es die Hölle, sie wäre durch den Schritt Ihrer Majestät gereinigt.«
»Ich bitte Sie nicht, mich zu entschuldigen, sondern mir zu glauben, daß ich nicht dort war«, sagte die Königin.
»Ich werde alles glauben, was Ihre Majestät mir zu glauben befiehlt«, erwiderte Charny, bewegt bis an den Grund seines Herzens über diese Inständigkeit der Königin, diese ergreifende Demut einer so stolzen Frau.
»Schwägerin, das ist zuviel«, flüsterte der Graf d'Artois ihr ins Ohr.
Alle Anwesenden waren zu Eis erstarrt, leidend in ihrer Liebe oder ihrer Eigenliebe und von allen Empfindungen getroffen, die eine angeklagte Frau erregt, die gegen erdrückende Beweise sich mutig verteidigt.
»Alle glauben es, alle glauben es«, rief die Königin in zorniger Ratlosigkeit, und sie sank entmutigt in einen Fauteuil.
»Schwägerin, Schwägerin, ich bitte Sie«, sagte teilnehmend der Graf d'Artois, »Sie sind unter ergebenen Freunden; dieses Geheimnis, das Sie über die Maßen erschreckt, kennen nur wir; und niemand wird es unseren Herzen je entreißen.«
»Geheimnis, Geheimnis, ich will Beweise!«
»Madame«, sagte Andree, »man kommt.«
»Es ist der König«, sagte Philippe mit gedehnter Stimme.
»Der König, wie gut! Der König ist mein einziger Freund. Er würde mich nicht für schuldig halten, selbst wenn er glaubte, mich gesehen zu haben. Der König ist mir willkommen!«
Der König trat ein. Seine Miene stach seltsam von den verstörten Gesichtern der Umstehenden ab.
»Sire«, rief die Königin, »Sie kommen zur rechten Zeit. Wieder eine Beschuldigung, wieder eine Verleumdung, die es zu bekämpfen gilt. Ein infames Gerücht, das um sich greifen wird. Helfen Sie mir, denn diesmal sind es nicht mehr meine Feinde, sondern meine Freunde, die mich verklagen.«
Und sie erklärte dem König den Fall. Ludwig runzelte die Stirn. Ein furchtbares Schweigen lastete auf den Versammelten.
Madame de La Motte sah die düstere Unruhe des Königs. Sie sah die tödliche Blässe der Königin; mit einem Wort, einem einzigen Wort hätte sie eine so quälende Pein beendigen können; ein Wort von ihr hätte alle vorigen Anklagen zunichte gemacht und die Königin für die Zukunft gerettet.
Aber ihr Herz führte sie nicht in solche Versuchung; ihr Eigeninteresse bewahrte sie davor. Sie sagte sich, daß es dazu schon zu spät sei. Sie hatte in der Mesmer-Affäre das Entscheidende verschwiegen, und hätte sie sich jetzt korrigiert und das Geheimnis aufgedeckt, wäre ihre eben anbrechende Laufbahn als Günstling der Königin mit einem Schlage von ihr selbst zerstört worden. Sie schwieg.
Angstvoll forschte der König nach Aufschlüssen. Die Königin suchte aufzuklären, was sie am Tag und Abend des Opernballs getan.
Plötzlich erhellten sich die Züge des Königs, und lächelnd, mit ausgebreiteten Händen fragte er: »Sonnabend? Nicht wahr, meine Herren, Sie sagten, Sonnabend?«
Man bestätigte.
»Nun«, fuhr er immer ruhiger und heiterer fort, »Sie brauchen niemand anderes zu fragen als Ihre Kammerfrau, Madame. Sie wird sich wohl erinnern, um welche Stunde ich an dem Tag zu Ihnen kam; es war, wenn ich nicht irre, gegen elf Uhr abends.«
»Oh, Sire!« rief, von Freude überwältigt, die Königin und fiel ihm dankbar in die Arme. Der König küßte zärtlich ihr schönes Haar.
»Weiß Gott!« rief d'Artois voll Staunen und sichtlicher Freude, »ich werde mir eine Brille kaufen müssen. Aber nicht um eine Million wollte ich diese Szene, die wir miterleben durften, missen.«
Philippe lehnte totenblaß an der Täfelung. Charny trocknete seine schweißbedeckte Stirn.
»Es ist also ausgeschlossen, meine Herren«, bekräftigte Ludwig voller Freude, »daß die Königin an demselben Abend auf dem Opernball war. Sie mögen es glauben, wenn Sie wollen - Ihrer Majestät wird genügen, daß ich ihr glaube.«
»Charles, ich gehe mit Ihnen«, fuhr der König fort, nachdem er Marie-Antoinette die Hand geküßt hatte.
»Herr de Taverney«, sagte die Königin streng, »Sie begleiten den Herrn Grafen d'Artois, nicht wahr?«
Das Blut schoß Philippe in die Schläfen. Er war einer Ohnmacht nahe. Er hatte kaum die Kraft, zu grüßen und seinen wilden Schmerz zu verbergen. Mit einem furchtbaren Blick auf Charny entfernte er sich.
Wir konnten, ohne den Gang der Handlung zu verzögern, die Empfindungen Andrees nicht schildern, die sich plötzlich zwischen die Königin und ihren Bruder gestellt sah. Sie begriff, daß Philippe sein Leben gegeben hätte, um ein Alleinsein der Königin mit Charny zu verhindern - denn daß es mehr sogar als ein Alleinsein wäre, verriet ihr Jeannes devote Miene -, und sie gestand sich in demselben Zuge, daß es ihr das Herz zerschnitten hätte, wäre sie, wie sie hätte tun müssen, Philippe gefolgt, um ihn zu trösten.
Was ging in ihr vor? Wie sollte sie es sich erklären?
War das Liebe? Oh, die Liebe gedeiht nicht so rasch in der kalten Atmosphäre des Hofes. Diese seltene Blume entfaltet sich nur in großen, reinen Herzen, die nicht von Erinnerungen entweiht und von Tränen über Jahre hin zersetzt sind. Nein, was Fräulein de Taverney für Herrn de Charny empfand, war nicht Liebe. Energisch verwarf sie eine solche Vorstellung, weil sie sich geschworen hatte, niemanden auf der Welt mehr zu lieben.
Warum aber hatte sie so heftig gelitten, als Charny die wenigen Worte voller Respekt und Ergebenheit an die Königin gerichtet hatte? Gewiß, das war Eifersucht.
Ja, Andree gestand sich ein, daß sie eifersüchtig war, jedoch nicht auf die Liebe, die der junge Mann einer anderen Frau als ihr entgegenbrachte, sondern eifersüchtig auf die Frau, die diese Liebe eingegeben, angenommen und gutgeheißen hatte.
Mit Trauer ließ sie an ihrem inneren Auge all die jungen Herren des Hofes vorüberziehen, die nach den ersten, förmlichen Huldigungen sich stets von ihr zurückgezogen hatten, weil sie sie nicht begriffen. Sie mißtrauten der Kälte einer jungen Frau, die schön, reich und Favoritin einer Königin war und einsam abseits blieb, wo alles dem Glück zustrebte.
Ein lebendiges Rätsel zu sein ist keine Verlockung. Andree hatte es wohl bemerkt; sie hatte gesehen, wie man allmählich die Augen von ihrer Schönheit abwandte. Mehr noch, es war üblich geworden, Mademoiselle de Taverney ebensowenig ins Gespräch zu ziehen, wie man etwa die Latona oder Diana im Park zu Versailles angesprochen hätte. Wer Fräulein de Taverney seinen Gruß entboten hatte, wußte, er hatte seine Pflicht getan.
All dies war dem wachen Blick des jungen Mädchens nicht entgangen. Sie, deren Herz alle Leiden ausgekostet hatte, ohne eine wahre Freude kennenzulernen, sie, die das Leben vorschreiten sah mit einem Trauergefolge bleicher Bedrängnisse und schwarzer Erinnerungen, seufzte in ihren schlaflosen Nächten, wenn sie die glücklich Liebenden von Versailles Revue passieren sah, voll tödlicher Bitterkeit:
»Und ich, mein Gott!, und ich?«
Als an jenem Abend der letzten großen Kälte Charny ihr begegnet war, als sie die Blicke des jungen Mannes neugierig auf sich hatte ruhen und ihre Gestalt hatte umhüllen sehen, fühlte sie, daß sie für diesen Mann eine Frau war. Er hatte die Jugend in ihr wiedererweckt; er hatte den Marmor der Diana und Latona zum Erröten gebracht, und jäh hatte ihr Gefühl an diesen Erneuerer ihrer Lebenskraft sich geheftet. Sie war glücklich, wenn sie ihn sehen konnte. Und es machte sie unglücklich zu denken, daß eine andere Frau die Flügel ihrer blauen Phantasien beschneiden und ihren Traum vernichten könnte, kaum daß er dem goldenen Tor entschlüpft war.