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»War diese Dame nicht Madame de Boulainvilliers?«

»So ist es, Madame; nur starb sie leider zu früh, und ihrem Gatten verdanke ich das Unglück meiner Jugend, wie ich meiner Mutter meine unglückselige Kindheit verdanke. Als er die Quittung für die Wohltaten seiner Frau kassieren wollte und ich mich dem versagte, stieß er mich ins Elend zurück. Ich heiratete Herrn de La Motte, einen einfachen, aber tapferen Soldaten. Doch da ich getrennt von ihm leben muß, weil er in Bar-sur-Aube kaserniert ist, sehe ich mich abermals der Not preisgegeben. - Dies, meine Damen, ist meine Geschichte; ich habe sie verkürzt, denn das Unglück hat Seiten, die man glücklicheren Zuhörern besser erspart.«

Langes Schweigen folgte Jeannes Bericht. Schließlich verlangten die Damen Dokumente zu sehen, die das Gesagte bestätigen konnten. Jeanne entnahm einer Geheimlade ein altes, mit dem Wappen der Familie Valois versehenes Portefeuille. Die Damen fanden die Papiere in der Ordnung, dann griff die Ältere - Jeanne mit scharfem Auge ließ sich keine ihrer Bewegungen entgehen -in eine Tasche und zog eine kleine Rolle von drei bis vier Zoll Länge hervor.

»Die Wohlfahrtsstiftung autorisiert mich, Ihnen vorerst diese Kleinigkeit anzubieten«, sagte die Dame und legte die Rolle auf eine Kommode.

Jeannes Blick streifte das Geschenk. Es sind Taler, dachte sie; mindestens fünfzig Taler, wenn nicht hundert. Aber für fünfzig ist die Rolle zu lang, für hundert zu kurz.

Frau Clothilde leuchtete den Damen hinaus, nachdem sie kurzen Abschied genommen.

»Wann dürfte ich mir die Ehre nehmen, Ihnen zu danken, meine Damen?« fragte Jeanne den Davoneilenden nach.

»Man wird Ihnen Nachricht geben«, rief die Ältere.

Jeanne hastete zu der Kommode. Dabei stieß ihr Fuß an einen Gegenstand. Augenblicks hob sie ihn auf und betrachtete ihn unter der Lampe. Es war ein flaches goldenes Döschen, das Schokoladenpastillen enthielt. Aber das wache Auge der Finderin erkannte, daß da ein doppelter Boden war. Endlich entdeckte sie die Geheimfeder, und sichtbar wurde das Porträt einer Frau: strenge, fast männlich-majestätische Züge, eine hohe Frisur nach deutscher Art. Den Deckel der Dose zierte ein Monogramm, in dem ein M und ein T verschlungen waren und das ein Lorbeerkranz umrahmte. Die Ähnlichkeit der älteren Besucherin mit der abgebildeten Frau war unverkennbar. Jeanne wollte den Damen nachlaufen, aber zu spät. Das Haustor fiel ins Schloß. Durch die Rue Saint-Claude enteilte ein Kabriolett.

Jeanne verwahrte die Dose, dann öffnete sie, am ganzen Leibe bebend, den zweiten Gegenstand ihrer Neugier.

»Fünfzig Doppellouisdor! Hundert Louisdor! Oh, so reiche Damen werde ich wiederzufinden wissen!«

Belus

»Madame«, empfing Weber die Damen an dem Kabriolett, »ich hatte Scipio bestellt, weil er sanft und leicht zu lenken ist, aber Scipio hat sich gestern eine Sehne gezerrt, so blieb nur der schwierige Belus.«

»Tut nichts, Weber«, sagte die Ältere, »ich habe eine feste Hand. Aufgesessen!«

Damit bestiegen die Damen das Kabriolett, und Weber nahm den Rücktritt ein. Schnell wie der Blitz jagte Belus mit dem Wagen davon.

»Nun, Andree«, begann die Ältere, »was halten Sie von dieser Gräfin de La Motte-Valois?«

»Ich halte sie für arm und unglücklich.«

»Doch wohlerzogen, nicht wahr?«

»Offen gesagt, Madame, sie hat etwas in den Augen, was mir mißfällt, so etwas Verschlagenes.«

»Wie mißtrauisch Sie sind, Andree. Wer Ihnen gefallen soll, muß ganz untadelig sein. Ich fand diese Frau interessant, eindrucksvoll in ihrem Stolz wie in ihrer Demut.«

»Welches Glück für sie, daß sie Ihnen gefallen konnte.«

»Vorsicht!« rief die Dame und zerrte das Pferd zur Seite, das beinahe einen Lastträger niedergerissen hätte.

Man hörte die Flüche des Mannes, der den Rädern mit knapper Not entronnen war, und aus der Rue Saint-Antoine ertönte aus manchem Mund ein böses murrendes Echo.

Doch wider Erwarten passierte man das populäre Viertel ohne weiteren Zwischenfall. Das Gefährt führte eine brennende Laterne mit - eine Vorsichtsmaßregel, die damals noch nicht durch polizeiliche Vorschrift allgemeine Pflicht war, und so feurig Belus ausholte, so sensibel reagierte er auf die geübte Hand der Lenkerin. In den vornehmeren Vierteln jedoch, in die man jetzt gelangte, bemerkte Weber von seinem Rücktritt aus entschieden erbitterte Passanten, die dem Gefährt nachzueilen drohten. Die Menge murrte nicht mehr, sie schrie. Die Dame, die die Zügel hielt, kümmerte sich wenig um die offene Feindseligkeit. Sie schnalzte mit der Zunge, und Belus ging vom gemäßigten zum gestreckten Galopp über. Die Passanten spritzten nur so zur Seite.

Das Kabriolett erreichte das Palais-Royal. Hier konnte Belus zunächst nur mehr Schritt gehen, denn im Hof des Palais wärmte sich eine Armee von Bettlern an großen Feuern und nahm von den Lakaien des Hauses aus irdenen Töpfen Suppe entgegen: doch weit zahlreicher als die Esser waren die Zuschauer draußen vor dem Palais. Was immer in Paris öffentlich vorgeführt werden mag, es findet massenhaft Gaffer. Sie brachten das Gefährt schließlich ganz zum Stehen. Zuerst wurden verworrene Rufe laut, dann schwollen sie immer wütender an und forderten: »Nieder mit dem Kabriolett!«

Schon griff man dem Pferd in die Zügel. Belus, solche Behandlung nicht gewöhnt, stampfte und schäumte vor Unmut.

»Zum Kommissar! Zum Kommissar mit den sauberen Püpp-chen!« tobte die Menge.

Die tätlichen Angriffe und das anzügliche Geschrei von allen Seiten wurden so bedrohlich, daß die Ältere Weber auf deutsch zurief: »Wir steigen aus, Weber!«

Kaum hatten die Damen das Kabriolett verlassen, als die Masse sich darauf stürzte und es zu zertrümmern begann.

»Weber, um Himmels willen, verstehen Sie, was man uns vorwirft?« fragte die Dame den Kutscher, der sich der Angreifer wak-ker zu erwehren suchte.

In dem Augenblick antwortete eine fremde Stimme: »Man wirft Ihnen vor, Madame, eine Polizeivorschrift zu verletzen, die seit heute morgen in Kraft ist und die bis zum Frühling Kabrioletts in der Innenstadt verbietet, da sie für die Fußgänger die größte Gefahr bedeuten.«

Die Dame erkannte in dem Sprecher einen jungen Offizier, der offenbar nicht ohne Mühe sich herangedrängt hatte, um den gefährdeten Frauen beizustehen.

»Mein Gott, davon hatte ich keine Ahnung; aber was nun? Man zerschlägt meinen Wagen.«

»Lassen Sie ihn zerschlagen und machen Sie sich aus dem Staub, wenn ich Ihnen raten darf. Das Pariser Volk ist aufgebracht gegen die Reichen, die angesichts seines Elends ihren Luxus spazierenführen. Wenn Sie nicht zum Kommissar geschleppt werden wollen, benutzen Sie den Weg, den ich Ihnen bahnen will, und verschwinden Sie.«

Diese Worte wurden so leichthin gesprochen, daß die beiden Damen sich nicht darüber täuschen konnten, auch von diesem Offizier für reiche Mätressen gehalten zu werden.

»Reichen Sie mir Ihren Arm, mein Herr«, sagte herrisch die Ältere, »und führen Sie uns zu einer Droschke. Weber, du bleibst! Rette mir Belus - und dich selbst, wenn du kannst.«

Die Fahrt nach Versailles

Der Droschkenkutscher, den der Offizier ansprach, war auf seinem Sitz mehr erfroren als eingeschlafen.

»Holla!« schrie ihm der junge Mann ins Ohr und rüttelte ihn. »Diese Damen wollen nach Versailles.«

»Viereinhalb Meilen bei dem Glatteis?« entgegnete der Kutscher. »Unmöglich! Da gehen mir die Pferde kaputt. Und wenn man heil hinkommt, muß man auch noch zurück.«

»Bieten Sie ihm einen Louisdor«, sagte die Jüngere leise zu dem jungen Mann.

Der Offizier machte dem Kutscher das Angebot.

»Also gut«, knurrte er, »aber ich will mein Geld im voraus, das ist mein Recht.«

Die Ältere begann in ihren Taschen zu suchen.