Ernesto schoß wieder. Auf seiner Seite sprangen zwei Schatten durch die Nacht. Sie fielen sofort zusammen, er wußte nicht, ob er einen getroffen hatte.
«Und wenn ich hinausgehe und sage: Da habt ihr, was ihr wollt?!«Volkmar legte den Arm um Annas Schulter. Sie schmiegte sich an ihn, und er spürte erst jetzt, wie sehr sie zitterte. Sie war mutig, aber sie hatte Angst vor dem Sterben.
«Bleib hier!«sagte sie. Sie küßte seine Hand, hielt sie fest und streichelte mit der Wange seinen Unterarm.»Hier geht es schnell. Warum willst du langsam sterben? Weißt du, was ich geträumt habe? Daß dich alle da draußen vergessen, daß keiner dich vermissen wird, daß du für die draußen in der Welt wirklich tot bist, ertrunken, weggeschwemmt, aus! Und dann wärst du bei uns geblieben, Luigi und Ernesto hätten noch ein kleines Haus für uns angebaut, und wir wären hier glücklich gewesen. Das war ein schöner Traum.«
«Ein Dozent der Herzchirurgie als sardischer Bandit.«
«Du hättest die Leute in den Bergdörfern behandeln können. Jeder hätte den Mund gehalten. Ich habe noch keinen Mann gehabt, Enrico.«
«Verfluchtes Gequatsche!«schrie Ernesto am Fenster.»Sie kommen! Von allen Seiten! Es sind vier Mann! Hinter unserem Jeep gehen sie in Deckung!«
Er schoß, zielte jedoch absichtlich daneben, er hätte sonst auf seinen Bruder Luigi schießen müssen. Gallezzo und seine Freunde schoben den Jeep mit der furchtbaren Kühlerfigur vor sich her und benutzten den Wagen wie einen Panzer. So kamen sie sicher bis an die unterste Stufe der Treppe, die zur Haustür führte.
«Luigi«, sagte Anna leise und umklammerte das Gewehr.»Was haben sie mit Luigi gemacht?«
Von draußen erklang Gallezzos Stimme.»Hört einmal zu!«rief er hinter dem Jeep.»Wir haben kein Interesse, euch auszuräuchern. Luigi war ein Querkopf Er könnte noch leben, wenn er sich mit uns wie unter Freunden unterhalten hätte. Bei euch im Haus ist Dr. Volkmar. Wir wollen nichts anderes, als mit ihm reden. Verdammt, Ernesto, bist du ein Idiot?! Don Eugenio schickt uns. Ihr interessiert uns gar nicht!«
Ernesto schwieg. Er kannte keinen Don Eugenio, aber er wußte, was das Don bedeutete. Wenn die Gesellschaft ins Spiel gekommen war, war es sinnlos, weiter zu denken. Warum hatte Luigi sich bloß gewehrt? Madonna, was ist ein kleiner Bergbandit gegen die Ehrenwerte Gesellschaft?!
Ernesto legte den Mund an die Schießscharte und brüllte hinaus:»Wer garantiert uns das?«
Gallezzo kam aus der Deckung hervor. Aufrecht ging er um den Jeep herum; es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihn jetzt zu erschießen. Aber weder Anna noch Ernesto hoben die Gewehre. Auf der dritten Stufe der Treppe blieb Gallezzo stehen und nahm seinen Hut ab.
«Hier bin ich!«sagte er.»Ich warte!«
«Ich gebe Enrico nicht 'raus!«sagte Anna gepreßt.»Nie! Nie! Nie!«
«Der Don, Anna!«Ernesto wischte sich über die Stirn.»Wir sind allein! Was sind wir gegen die Gesellschaft?«
«Mein Gott, redet ihr von der Mafia?«Dr. Volkmar starrte durch den Fensterladenschlitz auf den Jeep mit dem toten Luigi auf dem Kühler.»Da draußen ist die Mafia?!«
«Ihr nennt es so. «Ernesto drehte sein Gewehr in den Händen wie einen Quirl.»Es gibt sichtbare und unsichtbare Könige. Die unsichtbaren sind mächtiger.«
«Ich schieße!«schrie Anna hell.»Ich schieße! Ich gebe Enrico nicht her! Wenn es die Carabinieri wären. aber die nicht! Die nicht!«
«Es hat keinen Sinn, Anna. «Ernesto legte sein Gewehr auf den
Tisch.»Man muß immer wissen, wer der Stärkere ist.«
Er ging zur Tür, schob die drei riesigen Eisenriegel zurück und stieß sie auf. Mit einem Satz sprang Anna vor Volkmar und legte ihr Gewehr an.
Gallezzo kam allein in das Haus. Er streifte Ernesto mit einem Blick, sah Anna fast melancholisch an und machte vor Dr. Volkmar, der Anna um einen Kopf überragte, eine kleine Verbeugung.
«Dottore«, sagte er höflich.»Ich komme mit einer Einladung. Es lag nicht im Sinne von Dr. Soriano, seine Gastfreundschaft mit Katastrophen zu dramatisieren. Ich bedaure die widrigen Umstände sehr, aber die Menschen sind dumm und bleiben dumm und verhalten sich Argumenten gegenüber wie ein Gehörloser, dem man Puccini ins Ohr spielt. Rätselhaft. «Er nahm seinen weichen weißen Filzhut, hängte ihn über Annas Gewehrlauf und freute sich sichtbar über diesen Einfall.»Auf dem Flugplatz Cagliari wartet unser Firmenjet, Dottore. Ich bin beauftragt, Ihnen diesen Paß auf den Namen Ettore Lumbardi zu überreichen. Das Bild hat zwar keine Ähnlichkeit mit Ihnen — aber es kommt nur darauf an, daß Sie einen Paß haben, falls ein übereifriger Beamter kontrolliert. Auf Sizilien ist dann sowieso alles anders.«
«Sizilien.«, sagte Ernesto leise.»Maria mia! Die Zentrale!«
«Sie wollen meine Entführung also perfektionieren?«sagte Dr. Volkmar.
«Aber Dottore! Sie sind der Gast von Dr. Soriano. Die besten Schneider von Palermo werden schon morgen früh für Sie tätig sein. Zuallererst brauchen Sie einen weißen Smoking für die Gartenfeste und Partys.«
«Was will die Mafia von mir?«fragte Volkmar laut. Gallezzo machte ein Gesicht, als habe man ihn gegen das Schienbein getreten.
«Dottore, sprechen Sie nicht solche Worte aus! Mafia — das ist doch eine Sage! Wenn Journalisten keine Phantasie mehr haben, erfinden sie die Mafia!«
«Und wenn ich mich weigere, mitzukommen?«
«Er weigert sich!«schrie Anna wild und schleuderte Gallezzos Hut von dem Gewehrlauf.»Er weigert sich!«
Gallezzo blieb ruhig, er bekundete sogar ehrliches Erstaunen.
«Dottore, bitte erklären Sie mir, warum Sie Dr. Soriano beleidigen wollen, indem Sie seine Einladung ablehnen? Er verehrt Sie, bewundert Sie!«
«Mich? Verwechseln Sie mich nicht?«
«Ihre Forschungen über Organverpflanzungen.«
«Ist dieser Dr. Soriano etwa auch Mediziner?«Volkmar löste sich aus Annas Bewachung, aber sie folgte ihm mit angelegtem Gewehr so hautnah, daß er den Druck ihrer Brüste in seinem Rücken spürte.
«Rechtsanwalt. Wenn ich alle seine Titel und Ehrenämter aufzählen wollte, würde es Tag werden. Den Sonnenaufgang aber sollen Sie in Palermo erleben. Ein Morgenhimmel auf Sizilien kann wie Seide sein. «Gallezzo blickte Anna forschend an. Von Ernesto ging keine Gefahr mehr aus, er begriff die Situation. Aber ein Weibsbild, das liebt, ist eine Tigerin.»Er nimmt die Einladung an!«sagte er zu Anna.
«Sind Sie sicher?«Volkmar ging zur Tür und blickte hinaus. Vor der Treppe stand der Jeep mit Luigis Leiche. Drei Männer hatten sich darum gruppiert und rauchten seelenruhig.»Was haben Sie mit mir vor?«fragte er.»Nicht Sie, aber Ihre >Gesellschaft<! Ist das richtig so?«
«Beinahe, Dottore. «Gallezzo lächelte milde. So lächelnd hatte er Luigi das Ohr abgeschnitten.»Sie werden schöne Abende erleben, Musik, Tanz, elegante Frauen. Ein schönes Haus, direkt am Meer mit einem großen Park, wird Ihnen zur Verfügung stehen. Dr. Soriano ist berühmt für seine Gastfreundschaft und seine Feste.«
«Don Eugenio?«
«So nennen ihn gute Freunde. Sie werden dazugehören, Dotto-re. Können wir gehen?«
«Unter einer Bedingung!«
«Erfüllt!«sagte Gallezzo großzügig. Er besaß alle Vollmachten.
«Weder Anna noch Ernesto wird ein Haar gekrümmt! Ich verspreche Ihnen: Ich mache Ihnen die größten Schwierigkeiten, wenn sich das mit Luigi wiederholt!«
«Geh nicht!«schrie Anna und umklammerte ihn.»Enrico, geh nicht!«
«Wir können sie leider nicht mitnehmen«, sagte Gallezzo, als sei er darüber untröstlich. Dann griff er in die Rocktasche, holte ein Bündel Geldscheine heraus und legte sie auf den Tisch neben Ernestos Gewehr. Seiner Brieftasche entnahm er ein anderes Bündel mit großen Scheinen. Auch sie legte er neben das Gewehr.»Eine Anerkennung von Don Eugenio«, sagte er zu dem fassungslosen Ernesto.»Es sind genau eine Million Lire.«