«Von so etwas habe ich schon gelesen. «Volkmar schluckte, ein Kloß steckte in seinem Hals. Das Parlament der Mafia, dachte er. Die Chefs aller >Familien<. Ein Gremium, dessen Beschlüsse auf rätselhafte Weise sogar auf die Entscheidungen der Staatsführung einwirken konnten.
«Gelesen!«sagte Dr. Soriano,»was ist das schon! Sie werden sie alle persönlich kennenlernen. Interessante Herren mit einem kosmopolitischen Blick. Ich garantiere Ihnen: Sie werden sich in unserem Freundeskreis wohl fühlen.«
Dr. Volkmar antwortete nicht. Eine Erscheinung, die in dieses Paradies paßte, verschlug ihm die Sprache.
Durch den Säulengang kam ein junges Mädchen auf sie zu. Ein langes, im Meerwind sich blähendes weißes Kleid mit großen roten Blüten, im Sonnenlicht durchsichtig wie ein Schleier, verriet, daß sie auf ihrem vollendet geformten Körper einen goldfarbenen Bikini trug. Das wie Lack glänzende schwarze Haar reichte ihr bis zu den Hüften und wogte bei jedem Schritt auf. Braungrüne, mandelförmige Augen beherrschten das Gesicht; ihre Lippen wölbten sich wie leuchtendrote Blütenblätter.
«Meine Tochter«, sagte Soriano.»Meine Tochter Loretta.«
Man muß Ungeschicklichkeiten entschuldigen bei einem Mann, den eine Frau so fasziniert. Als Dr. Volkmar aufsprang, stieß er die silberne Kaffeekanne um.
Mr. Worthlow legte sofort eine Serviette über den großen braunen Fleck. Loretta blieb vor Dr. Volkmar stehen und reichte ihm ihre schmale Hand. Sie trug nur einen Ring, ein daumennagelgroßer, klarer Rubin spiegelte die Sonnenstrahlen zurück.
«Das ist Dr. Volkmar«, sagte Dr. Soriano und suchte aus der Käseplatte ein Stück Hirtenkäse heraus.
«Papa hat mir von Ihnen erzählt. Ich war richtig neugierig auf Sie. «Sie lächelte, als Volkmar, wiederum sehr linkisch, ihre Hand küßte.»Sie lieben Beethoven, Dottore?«
Dr. Volkmar spürte, wie ihm Röte ins Gesicht stieg.»Ich war zu laut, gestern nacht?«fragte er und hielt Lorettas Hand unwillkürlich fest. Sie entzog sie ihm nicht. Der Hauch eines herbsüßen Parfüms wehte aus ihren Haaren und dem weiten Schleierkleid.
«Sie hatten die Tür zur Terrasse auf. Meine Wohnung liegt neben Ihnen, und auch ich schlafe gern bei offenem Fenster. «Worthlow schob ihr einen Sessel hin, und erst jetzt, als sie sich setzen wollte, merkte Volkmar, daß er noch immer ihre Hand festhielt. Er wußte nicht, ob er sich entschuldigen sollte, es gelang ihm nur, dümmlich zu lächeln. Er wartete, bis Loretta saß und mit beiden Händen das lange Haar um ihre Schulter warf. Dann setzte auch er sich.
«Ich habe Sie also geweckt?«fragte Volkmar. Er hielt sich an Beethoven fest. Vergeblich suchte er nach charmanten Redewendungen, nach Konversationsthemen. Lorettas Augen irritierten ihn und verstärkten eine Unsicherheit, die er noch nie in seinem Leben, schon gar nicht Frauen gegenüber, verspürt hatte. Sie blickte ihn unbefangen und mit deutlichem Interesse an.
«Ich mag Beethoven«, sagte sie.»Es war Richter, der spielte, nicht wahr? Seinen Anschlag höre ich sofort heraus.«
«Loretta wurde in einem Kloster erzogen. Bei den frommen Schwestern vom blutenden Herzen Maria. «Dr. Soriano hielt Worthlow seine Espressotasse hin.»Sie haben dort die armen Mädchen mit Bildung malträtiert. Merkwürdig, daß sie Beethoven nicht ausgespart haben. Der Mann war doch ein Choleriker und konnte herzerfrischend Scheiße sagen.«
«Papa!«Loretta schien es warm in der Morgensonne zu werden. Sie öffnete ihr durchsichtiges Kleid und streifte es über die Schulter ab. Der goldene Bikini glitzerte auf ihrem braunen, biegsamen Körper.
«Sie hält mich für ordinär!«sagte Soriano.»Dabei bin ich Präsident der Kulturgemeinde Palermo und Mäzen der Opernfestspiele. Das Leben schleift ab, Dottore. Am schlimmsten hat's ein Rechtsanwalt. Überall Unrecht, überall Kriminalität — man ist versucht zu sagen: Es gibt keinen Menschen, der nicht Dreck am Stecken hat. Selbst Loretta hat ihre Tücken: Sie hat in der Klosterküche Obst geklaut.«
«Ich hatte Hunger!«
«Es war Fastenzeit!«
«Es war Richter«, sagte Dr. Volkmar. Soriano sah ihn entgeistert an.
«Wie bitte?«
«Swjatoslaw Richter. Der Pianist. Ihre Tochter fragte danach.«
«Ach! Da sind Sie noch?«Er blickte Mr. Worthlow an. Der But-ler sah auf seine Taschenuhr, die an einer Silberkette hing.
«Noch zehn Minuten, Sir.«
Soriano erhob sich. Er aß noch ein Käsestückchen und tauchte dann die Finger in eine Schale mit Wasser und Zitronenscheiben. Worthlow reichte ihm eine große Serviette zum Abtrocknen.
«Kommen Sie mit, Dr. Volkmar?«fragte er dann.»Die Löwen und die Krokodile werden gefüttert. Haben Sie das schon mal gesehen? Ein grandioses Schauspiel.«
«Ich möchte Signorina Loretta nicht allein lassen. «Dr. Volkmar wußte, wie dämlich dieser Satz klang, aber er befand sich im Stadium absoluter Verworrenheit. Es ist zum Kotzen, dachte er. Mit zweiundvierzig Jahren, und noch dazu als Arzt, sitzt man da wie ein halbreifer Knabe, der zum erstenmal einen halb nackten Frauenkörper sieht und davon träumt, ihn mal anfassen zu dürfen. Er dachte, wie hilfesuchend, an Dr. Angela Blüthgen, aber sie half ihm nicht. Bei ihr war alles so unkompliziert gewesen. Man wußte den Ablauf der Dinge bis zum nächsten Morgen. Und bei seinen anderen Erlebnissen war es ähnlich gewesen: Zärtlichkeit und Hingabe, Versprechungen, an die keiner glaubte und die auch schnell vergessen wurden.
Mit Loretta war schon jetzt alles anders. Ihre braungrünen Mandelaugen blickten Volkmar an, als könne sie seine Gedanken lesen. Der Wind, der warm und nach Salz riechend vom Meer herüberwehte, spielte mit ihrem Haar.
«Ich komme mit«, sagte sie mit ihrer samtenen Stimme.
Sie stand auf, legte das Schleierkleid lose um ihre Schultern. Volkmar sprang auf, sie legte ihre Hand auf seinen Arm, und es war ihm, als drückten ihre Finger ganz leicht in seine Haut. Es konnte ein Irrtum sein, aber Volkmar war in dieser Stunde bereit, vieles zu glauben, was er sonst als pubertären Blödsinn abgetan hätte. Lorettas Gegenwart paralysierte ihn. Ja, das ist der richtige Ausdruck, dachte er. Das ist medizinisch korrekt: Mein Hirn ist aufgeweicht, gelähmt! Ich denke nichts mehr — ich sehe nur noch. Ich sehe nur sie. Was um sie herum atmet, spricht, geht, ist unwichtig, ist gar nicht vorhanden. Das ist tatsächlich der Zustand totaler Umnachtung. Und das erschreckendste: Man weiß es und tut nichts dagegen!
Dr. Soriano ging voraus. Mr. Worthlow blieb zurück und überwachte das Abdecken des Frühstückstisches.»Zuerst die Krokodile«, sagte Soriano.»Die meisten Menschen halten sie für abscheuliche Tiere.«
«Ich gehöre auch dazu«, sagte Loretta. Dr. Volkmar zuckte zusammen, als Loretta ihren Arm unter den seinen schob. Sie gingen eng beieinander, berührten sich mit den Schultern, er sah, wenn er zur Seite blickte, die Wölbung ihrer Brüste in dem goldenen Bikini, die abfallende Linie ihres Leibes, das dreieckige Stückchen Goldstoff und die langen Beine, die den Plattenboden kaum zu berühren schienen. Sie schwebt, dachte Volkmar. So verrückt bin ich schon, daß ich das für möglich halte! Aber man hörte sie tatsächlich nicht. Kein Klicken der hochhackigen, goldbestickten Schuhe. Sie muß knapp über 110 Pfund wiegen, dachte er. Als Arzt hat man dafür ein Auge. Wie können 110 Pfund so lautlos sein?
Er sah den herrlichen Park kaum, aber als sie an dem großen Teich standen und sich von ihrer Insel die hornigen Riesenechsen klatschend ins Wasser wälzten und zu ihnen geschwommen kamen, riß sich Volkmar endlich von Lorettas Bewunderung los.
Zwei Männer in Gummischürzen schoben einen großen Karren mit zerteiltem Fleisch heran. Das Blut tropfte ihnen über die Stiefel, mit einer dreizackigen Gabel stießen sie in das Fleisch und warfen die großen Brocken in den See. Das Wasser schäumte auf, gehörnte Körper schnellten in die Luft, Rachen mit mörderisch spitzen Zahnreihen stürzten sich auf das blutige Fleisch und zerhackten es. Knochen knirschten, Reptilienpanzer krachten aneinander, in den vorstehenden Augen funkelte Mordlust. Blut. Blut. Blut.