Ich werde dich finden, Enrico, dachte sie. Laß mich erst in Palermo sein. Und auch dich werde ich finden, du Tier im Maßanzug. Du hast Luigi abgestochen. Wohin du auch läufst, du entkommst mir nicht! Ich will dich schreien hören. Schreien! Schreien! Und dann haben wir Zeit für uns, Enrico. Ich bringe dir als Geschenk meine Unberührtheit.
In Cagliari erhielt am späten Abend Dr. Angela Blüthgen Besuch von dem Kommissar, der den >Fall Dr. Volkmar< bearbeitete. Er hatte es für angemessener gehalten, Angela im Hotel zu sprechen, als sie wieder ins Präsidium zu bestellen. Die Carabinieri von Cabras, die Dr. Blüthgen beobachtet hatten, gaben in ihrem telefonischen Bericht an, die deutsche Signorina habe über vier Stunden unbeweglich auf der Stelle gesessen, wo das Zelt gestanden hatte. Dann sei sie aufgestanden und mit gesenktem Kopf zu dem Leihwagen zurückgegangen.
«Ich bin gekommen«, sagte der Kommissar,»um Sie zu fragen, was mit den hinterlassenen Sachen geschehen soll. «Er sprach ein holpriges Französisch, ebenso wie Angela. Man hatte sich auf diese Sprache geeinigt, um miteinander sprechen zu können.»Wollen Sie alles mitnehmen? Wir stellen Ihnen eine polizeiliche Bescheinigung aus für den Fall, daß es irgendwo Schwierigkeiten geben sollte.«
«Ich bleibe hier!«sagte Angela Blüthgen.»Sie glauben wirklich an Unfall?«»Etwas anderes ist nicht möglich, Madame.«
«Haben Sie das Meer gesehen, Herr Kommissar?«
«Ich kenne als Sarde doch unser Meer, Madame.«
«Ruhig, glatt, ohne große Strömung. In den ganzen Tagen war kein Sturm, kein Wetterumschwung. Und Heinz war ein vorzüglicher Schwimmer. Er konnte gar nicht ertrinken.«
«Wenn er zu weit hinausgeschwommen ist und hat einen Krampf bekommen? So passieren die meisten Unfälle im Meer, auch bei guten Schwimmern.«
«Als Arzt hätte er sich zu helfen gewußt.«
«Im Meer? Madame, bei Krämpfen sind alle gleich.«
«Ich glaube einfach nicht daran. «Angela hob die Arme und ließ sie wieder zurückfallen.»Ich weiß keine Erklärung dafür. Es ist ein Gefühl. Ich spüre, daß irgend etwas geschieht, was mit Heinz zusammenhängt, wenn ich hier bleibe. Sie können das nicht verstehen.«
«Ich verstehe Ihren Schmerz, Madame. «Der Kommissar hielt es für besser, die Unterhaltung abzubrechen. Für ihn zählten keine Gefühle, es gab nur die Tatsache, daß Dr. Volkmar verunglückt war.»Lassen wir also alle Sachen in der Garage.«
«Ja, bitte.«
«Das Auto können Sie benützen, wenn Sie wollen.«
«Danke.«
Sie nickte, als sich der Kommissar verbeugte und schnell das Hotelzimmer verließ. Eine schöne trauernde Frau greift auch einem Polizisten ans Gemüt.
Wo bleibt mein vielgerühmtes Realitätsdenken, fragte sie sich. Sie hockte in einem Sessel, aus dem Hotelradio flatterte schmalzige Musik, eine musikalische Kulisse, die sie nicht störte, eher etwas beruhigte. Der Verstand sagt: Er ist tot! Aber das Gefühl hofft und hofft, so lange man nicht seinen Körper gefunden hat. Vielleicht findet man ihn nie, und ich muß mit einem ungelösten Rätsel leben.
Ein paar hundert Meter weiter hatte der Südfruchthändler Ore-to einen undankbaren Auftrag zu erfüllen. Er tat es nur, weil dabei fünf Millionen Lire heraussprangen, freilich auch, weil eine Drohung aus Sizilien vorlag, man könne auch Südfruchthandlungen in die Luft sprengen. Oreto war nicht nur klug genug, sondern auch ein vollkommener Italiener. Das genügte, um ihn diese Nachricht sehr ernst nehmen zu lassen.
In einer Ecke der Lagerhalle III lag ein Toter auf einer alten Decke. Ein Zahnarzt mit einem transportablen Bohrer arbeitete an dem Gebiß der Leiche. Mit einem Kiefernspreizer hatte er den Mund aufgesperrt. Rund um die Leiche lagen Bohrer und Haken, Plombenmaterial, Füllmasse: alles, was man zur Zahnbehandlung braucht. Oreto saß daneben auf einem alten Stuhl und las vor, was ihm Dr. Soriano telefonisch durchgegeben hatte.
«Nummer sieben links oben. Amalgam-Kadmium-Plombe.«
«Ein Glück, daß er keinen Goldzahn hatte«, sagte der alte Zahnarzt und begann, Nummer sieben links oben aufzubohren. Ein bis in die Knochen fahrendes Geräusch, das Oreto haßte. Er hatte vor nichts Angst, aber auf dem Stuhl eines Zahnarztes brach sein Kreislauf zusammen. Er starrte auf den alten Bohrer, ein Modell aus der Pionierzeit der Zahnbehandlung, das noch mit Fußtritten angetrieben wurde, aber es war das einzige, was sich hierhin transportieren ließ, und außerdem spürte dieser Patient nichts mehr.»Einen Goldzahn oder einen Ersatz, zum Beispiel eine Brücke, hätte ich nicht so schnell geschafft. Aber die paar Plomben kriegen wir hin. Hatte gute Zähne, der Mann.«
Der Bohrer knirschte im Zahn und höhlte ihn aus. Es roch brenzlig. Die Augendeckel des Toten schoben sich zurück, ein leerer Blick traf Oreto.
«Das weckt selbst Leichen auf. «sagte Oreto heiser, nahm ein Stück Sackleinen und warf es über die Augen des Toten.
Zum Abendessen im Familienkreis, wie es Dr. Soriano genannt hatte, erschien Dr. Volkmar nicht.
Auch Worthlows Beredsamkeit nützte nichts. Volkmar hatte sich zwar den weißen Smoking übergezogen, und der Butler hatte ihm die schwarze Schleife gebunden, aber dann hatte der Arzt sich trotzig in einen Sessel auf dem Dachgarten gesetzt und gesagt:»Nein! Nur, wenn man mich hinträgt! Worthlow, bitte holen Sie mir das Essen hierher! Ich streike ab sofort.«
«Damit erreichen Sie nichts, Sir«, sagte Worthlow, wie immer kühlfreundlich.
«Ich will provozieren! Was kann schon geschehen? Ich habe keine Angst mehr!«
«Ich werde Ihren Entschluß melden, Sir. «Worthlow ging ans Telefon und hob den Hörer ab.»Sie bleiben dabei?«
«Ja!«rief Volkmar vom Dachgarten.
Worthlow drückte auf einen Knopf am Apparat und veränderte um keine Nuance seine Stimme, als er sagte:»Dr. Volkmar hat mich soeben gebeten, für ihn allein auf dem Dachgarten zu servieren.«
«Das ist falsch, Worthlow!«Volkmar sprang auf, rannte ins Zimmer und riß dem Butler den Hörer aus der Hand.»Hören Sie, Don Eugenio?! Ich habe nicht gebeten! Ich weigere mich, mit Ihnen zu essen! Mir bleibt jeder Bissen im Halse stecken, wenn ich an Sie denke! Ich würde daran ersticken, wenn ich Sie auch noch ansehen müßte!«
«Das leuchtet mir ein!«Sorianos Stimme klang geradezu besorgt.»Ich bin kein Psychologe, davon verstehen Sie als Arzt mehr — aber jetzt kommt bei Ihnen die Reaktion auf die Erkenntnis. Pflegen Sie ruhig Ihren Trotz, Dottore. Wenn es Sie befreit: Schlagen Sie alles zusammen! — Geben Sie mir bitte Worthlow?«
Volkmar hielt den Hörer dem Butler hin. Er selbst ging auf den Dachgarten zurück, lehnte sich an die Randmauer und blickte über das nahe Meer. Das schwingende Laternenlicht von den kleinen Fischerbooten belebte die Dunkelheit.
Er fuhr erst herum, als Worthlow einen runden, appetitlich gedeckten Tisch auf die Terrasse unter die Markise rollte. Volkmar streckte den Arm aus.
«Was soll das?«rief er.»Zwei Gedecke! Ich will allein essen.«
«Sie werfen mich hinaus?«fragte eine samtene Stimme.
Volkmar hob die Schultern und drehte sich langsam um. In der Tür stand Loretta. Über das tief ausgeschnittene Kleid aus eng anliegendem, dunkelrosa Seidenjersey, das den oberen Teil ihrer Brüste freigab, breitete sich ihr langes, offenes Haar wie eine breite gesponnene Stola.
«Darf ich hereinkommen?«fragte sie, als Volkmar keine Antwort gab.
Er nickte, kam ihr entgegen und küßte ihr die Hand.
Hier bin ich sterblich, dachte er. Trotzdem, Don Eugenio: Ich operiere nicht!
«Mein Vater ist traurig — «, sagte sie. Es klang, als beschwere sich ein gekränktes Kind. Sie ließ sich an seiner Hand zu den tiefen Gartensesseln mit den dicken Polstern führen und setzte sich. Worth-low kurbelte an dem gedeckten Tisch — die Tischplatte ließ sich heben und senken. Loretta schlug die Beine übereinander, der lange Rock war bis zur Mitte der Oberschenkel seitlich geschlitzt.