In dieser neunten Nacht im großen Hauszelt geschah es, daß es draußen auf der Veranda schepperte, als stoße jemand an den Tisch und die Gartenstühle.
Dr. Volkmar hatte sich eine kleine Ballonflasche Rotwein gegönnt. Das Abendrot war von unfaßlicher Schönheit gewesen. Die Sonne versank im Meer wie eine riesige Feuerkugel, und das Wasser begann von innen heraus golden zu leuchten, bis die Farbe in ein Violett überwechselte und mit dem Abendhimmel verschmolz. Das war Anlaß genug, eine Flasche zu leeren und sich glücklich zu fühlen.
Vom Scheppern auf der Veranda erwachte Dr. Volkmar. Noch schlaftrunken fuhr er hoch und starrte auf den Zelteingang, der durch eine Plane mit breitem Reißverschluß geschlossen war.
«Ist da jemand?«fragte er auf italienisch.»Es lohnt sich nicht zu stehlen.«
«Signore — «Eine kleine, klägliche Mädchenstimme antwortete ihm.»Können Sie mir helfen. Bitte.«
Ein Mädchen bat um Hilfe. Das genügte, um Dr. Volkmar sofort aus dem Bett springen zu lassen. Er schlüpfte in seine Trainingshose und riß den Reißverschluß auf. Mit der Taschenlampe leuchtete er unter den Vorbau des Zeltes. Auf einem der Klappstühle saß ein junges, zierliches Mädchen. Als der Lichtstrahl sie traf, leuchteten ihre Augen grün wie Katzenaugen. Ihr schwarzes Haar war zerwühlt, ihre Bluse an der Schulter aufgerissen, am linken Fuß fehlte der Schuh. Sie legte die Arme kreuzweise vor ihre Brüste und starrte Dr. Volkmar mit einem Blick an, in dem sich seltsame, kreatür-liche Angst und kindliche Zutraulichkeit verrieten.
«Was hat man mit Ihnen angestellt?«fragte Dr. Volkmar. Er drehte die Lampe etwas zur Seite, weil das Licht sie blendete. Sie begann zu zittern, senkte den Kopf und krallte die Finger in ihre Oberarme.
«Es — es waren zwei«, sagte sie leise.
Volkmar sparte sich die Frage, was die zwei wohl von ihr gewollt hatten. Die aufgerissene Bluse erklärte genug. Er war betroffen, daß hier in >seinem< Paradies so etwas geschehen konnte. Er legte die Stablampe auf den Tisch, ging ins Zelt zurück und kam mit der Weinflasche wieder.
Sie nickte ihm dankbar zu, nahm die Flasche mit ihren kleinen Händen und setzte sie an die Lippen. Gierig trank sie den Rest des Rotweins und stellte die Flasche auf den Tisch zurück. Dabei verschob sich die Taschenlampe; der Schein fiel jetzt voll auf ihren Unterkörper, auf die Wölbung ihres Leibes, die Oberschenkel, die sich durch das dünne Kleid drückten, die schlanken Beine mit dem nackten linken Fuß. Volkmar umfaßte das alles mit einem Blick und stellte fest: Sie hat nichts als das Kleid auf ihrem Körper.
«Was machen Sie denn hier in der Gegend?«fragte er.
«Wir waren tanzen.«
«Hier? Wo denn? Um den Leuchtturm herum?«
«In San Giovanni.«
«Da kann man tanzen? Ich denke, da gibt es nur Fischerhütten.«
«Und die Taverne von Giulmielmo.«
«Und Sie sind von San Giovanni bis hierher gelaufen?«
Sie blickte ihn mit großen Rehaugen an. Jetzt, wo sie die Arme hängen ließ, bemerkte er, daß sie schöne, volle Brüste hatte.»Sie wollten mich nach Hause bringen, nach Cabras. Aber sie fuhren zur Küste. Ich konnte doch nicht aus dem fahrenden Auto springen. Erst als sie hielten und mich aus dem Wagen zerrten, erst als sie. «Sie schluckte und senkte wieder den Kopf.»Ich habe mich losgerissen und bin gelaufen, gelaufen, immer geradeaus am Meer entlang… und dann sah ich Ihr Zelt, Signore.«
«Enrico Volkmar!«sagte er. Er wählte die italienische Form von Heinrich. Heinz war für romanische Zungen ein zu barbarisches Wort.
«Ich heiße Anna. «Ihre dunklen Augen leuchteten wieder grünlich im Widerschein des Lichtes, als sie ihn anblickte und ihre zerwühlten Haare nach hinten strich. Eine schöne hohe Stirn, dachte Volkmar. Aber irgend etwas ist hier faul! Normalerweise ist es nicht üblich, daß ein so junges, hübsches Mädchen allein zum Tanzen geht und dann noch nackt unter dem Kleid. Nicht einmal einen Slip hatte sie an.
«Helfen Sie mir?«fragte Anna. Ihre Stimme konnte erstaunlich wechseln, vom Kindlichen zum Lauernden. Jetzt war sie wieder kindhaft klein. Ein Stimmchen, das zum beruhigenden Streicheln animierte.
«Ist Ihnen nichts geschehen, Anna?«fragte Volkmar.
«Sie haben es nicht geschafft, Enrico. Ich habe gebissen und getreten, bis ich weglaufen konnte.«
«Und was kann ich für Sie tun?«Volkmar wies zum Zelt.»Wenn Sie wollen, trete ich Ihnen mein Klappbett ab. Ruhen Sie sich aus, schlafen Sie sich den Schrecken weg. Ich gebe Ihnen ein Medikament; Sie werden von blühenden Bäumen träumen. Ich lege mich mit einer Decke in mein Schlauchboot, es ist ja warm genug.«
«Ich möchte nach Hause. wenn das möglich ist«, sagte Anna kläglich.
«Nach Cabras?«
«Ja.«
«Jetzt?«Volkmar sah auf seine Armbanduhr.»Wir haben gleich ein Uhr nachts.«
«Sie haben doch ein Auto, Enrico.«
«Ich halte es für besser, wenn Sie hier übernachten. Und dann fahren wir am frühen Morgen, bei Licht, nach Cabras.«
«Unmöglich! Jeder wird denken, ich hätte bei Ihnen geschlafen!«Sie legte die kleinen Hände aneinander und hob sie ihm flehend entgegen. Es sah rührend aus, sogar für einen hartgesottenen Chirurgen wie Volkmar.»Sie werden mich verachten und prügeln, und Sie wird man wegjagen, Enrico. Man wird uns nie glauben, daß wir nicht.«
Sie schwieg, biß in den Ballen ihrer rechten Hand und schien sehr verzweifelt.
Auch wenn es übertrieben ist, sie hat recht, dachte Volkmar. Der Ehrenkodex der Sarden war bekannt. Ein unbescholtenes junges Mädchen, das am frühen Morgen mit einem Mann nach Hause kommt, ist verdächtig. Vor allem, wenn dieses Mädchen nackt unter seinen Kleidern ist. Es wäre denkbar, daß man dann nicht mehr zu langen Erklärungen kommt.
«Wir fahren!«sagte er.»Ich ziehe mir nur etwas anderes an. «Er blieb am Zelteingang stehen und blickte über das Mädchen hinweg zu dem schwarzgewellten Meer. Der Sternenhimmel war phantastisch.»Was ist, wenn die beiden Burschen uns auflauern?«
«Sie sind weggefahren. Ich habe ihren Motor gehört.«
«Und warum sind sie Ihnen nicht nachgefahren?«
«Ich habe gebissen und gekratzt.«
Er sah Anna an und blickte ihr genau in den Schoß. Sie merkte es und legte die Hände wie schützend über ihren Unterleib.
«Daß sie das gehindert haben soll.«, sagte Volkmar zweifelnd.»Also gut. In zehn Minuten fahren wir.«
Er nahm die Stablampe vom Tisch, hüllte Anna wieder in Dunkelheit und ging ins Zelt, um sich anzuziehen. Er überzeugte sich, daß er seine Autopapiere bei sich hatte; die grüne Versicherungskarte lag im Autoatlas. Unschlüssig blieb er stehen und zog die Unterlippe durch die Zähne.
Nehmen wir an, die beiden Burschen liegen noch irgendwo auf der Lauer. Sie ahnen, daß Anna in meinem Wagen sitzt — denn wer sonst sollte um diese Zeit von der Küste ins Innere des Landes fahren? — Sie halten mich an und verlangen die Herausgabe Annas. Natürlich lehne ich das ab! Und dann? Ich habe als Student geboxt, aber ich bin nicht das, was man einen durchtrainierten Sportsmann nennen könnte. Meine Hände sind so feinfühlig, daß sie imstande sind, Gefäßnähte zu setzen, aber sie sind nicht geschaffen, auf Schädel einzuschlagen. Es wäre ein ungleicher Kampf, der schon verloren wäre, bevor er überhaupt angefangen hat.
Er kämmte sich mit zwei Strichen das Haar und trat wieder hinaus auf die Veranda. Anna hockte noch immer auf dem Klappstuhl. Sie lächelte, als er ihr ins Gesicht leuchtete.
«Sie haben bestimmt Messer bei sich«, sagte er.
«Ich?«
«Die beiden Kerle.«
«Hier hat jeder Bauer ein Messer bei sich.«
«Sage ich doch!«Volkmar sah keine Möglichkeit mehr, die Dinge noch zu ändern. Anna war ins Freie getreten. Die Silhouette ihres schönen Körpers hob sich wie ein Scherenschnitt gegen den Sternenhimmel ab. So rutscht man ungewollt und hilflos in Abenteuer, dachte Volkmar. Man flüchtet in die urwüchsige Natur, und plötzlich erwacht man im Krankenhaus mit zerbrochenem Kiefer. Wie schön muß die Welt ohne Menschen gewesen sein.