«Sie werden morgen die Klinik besichtigen, Enrico?«fragte sie und zerteilte geschickt die Languste. Die war von der Küche so vorbereitet worden, daß sie fast mundgerecht zerfiel. Auch die duftenden Hechtklöße waren perfekt.
«Wir haben drei chinesische Köche«, sagte Worthlow.»Es gibt keinen kulinarischen Wunsch, Sir, den wir nicht erfüllen könnten.«
«Ich glaube es Ihnen gern«, sagte Volkmar. Dann wandte er sich wieder an Loretta.»Sie müssen mich verstehen, Loretta. Ich bin als Tourist in Italien, nicht als Chirurg. Ich werde die Klinik Ihres Vaters nicht betreten. Aus Prinzip nicht. Ich kann unheimlich stur sein, das sollten Sie wissen.«
«Sie werden etwas verpassen, Enrico.«
«Das glaube ich Ihnen gern. «Loretta hörte den Unterton wohl nicht heraus.
«Als Hauptgang gibt es Filet Wellington mit einer Spezialsoße aus frischen Trüffeln. Heute morgen aus Frankreich eingeflogen. «Worthlow versuchte abzulenken, aber Volkmar war nicht mehr bereit, so perfekt mitzuspielen.
«Sie kennen die Klinik, Loretta?«
«Ich habe sie eingeweiht. Diese vielen lieben, dankbaren alten Leute.«
Es hatte keinen Sinn, Loretta mit der Wahrheit zu konfrontieren. Dann hätte man sie ja auch gleich vor die Krokodile werfen können.
«Ich gehe mit Ihnen lieber in Palermo spazieren. Zeigen Sie mir Palermo.«
«Sie kennen die Stadt nicht?«
«Nein. Nur aus Verdis >Sizilianischer Vesper<. Die große Baß-Arie: >O du Palermo.< Eine ziemlich blutige Angelegenheit, diese Oper.«
Worthlow räusperte sich diskret. Dr. Volkmar lächelte vor sich hin. Es ist verblüffend, wie schnell ein Mensch seine Angst verlieren kann.
«Palermo!«sagte Loretta und tauchte die Finger in die mit Zitronenwasser gefüllte Schale.»Die Sizilianer sind freundliche, friedliebende Menschen. Ich führe Sie gern durch Palermo, Enrico.«
Nach dem Eisdessert mit flambierten Riesenhimbeeren tanzten sie auf der großen Dachterrasse unter der Markise, eng umschlungen, stumm, nur dem Rhythmus der leisen Musik und den Bewegungen ihrer Körper hingegeben, die einander liebkosten, ohne sich aufdringliche Freiheiten herauszunehmen. Worthlow räumte den Tisch ab, deckte um mit Champagner, Orangensaft und Petit fours und zog sich dann diskret in Volkmars Wohnzimmer zurück, wo er an der Tür zur Halle stand wie ein Erzengel vor dem Eingang zum Paradies.
«Sie tanzen hervorragend, Enrico«, sagte Loretta, als sie nach fünf Tänzen zu den Sesseln zurückkehrten.
«Ich wußte das selbst nicht. «Er goß Champagner ein und blickte hinauf in den Sternenhimmel. Morgen wird es hart, dachte er. Morgen wird es vielleicht tödlich. Meine Schonzeit geht zu Ende, ich fühle es. Nie wird mir Loretta Palermo zeigen dürfen. Und diese Nacht ist ein Teil von Sorianos perversem Plan. Finden wir uns damit ab.»Cheerio, Loretta, es war zauberhaft mit Ihnen!«
«Sie sind ein erstklassiger Chirurg, können ausgezeichnet tanzen. Was können Sie noch?«fragte sie und mixte Orangensaft in den
Champagner.
«Ich bin ein guter Schwimmer, auch Tennisspieler, interessiere mich vor dem Fernseher — für Fußball. Als Student habe ich gern geboxt. Einmal war ich Landesmeister im Mittelgewicht. Mein großer Wunsch war es einmal, Rallyes zu fahren oder den Sportfliegerschein zu machen. Aber daraus wurde nie etwas. Die Zeit, Loretta! Manchmal war ich achtunddreißig Stunden in der Klinik, immer zwischen Wachstation und OP pendelnd. Vollgepumpt mit schwarzem Kaffee.«
«Also als Arzt ein Besessener?«
«Man kann's so nennen. Trotzdem ist es ein unbeschreibliches Glücksgefühl, wenn man helfen kann. Ich bin ein altmodischer Arzt, Loretta. Ich sehe nicht den Patienten und sein Bankkonto, sondern den Menschen und seine Krankheit. Darum bin ich auch das, was man bei uns >eine arme Sau< nennt. Aber, verflucht, ich fühle mich auch sauwohl dabei!«
Es war gegen drei Uhr morgens, als das Abendessen nach Loretta-Art beendet war und sie sich verabschiedeten. Volkmar brachte sie bis zur Tür seiner Privathalle und küßte ihr die Hand. Da nahm sie seinen Kopf zwischen ihre langen, zarten Finger und drückte ihre Lippen auf seine Augen. Es war ihm, als müsse er von jetzt ab blind sein.
«Enrico, ich mag Sie«, sagte sie ohne Scheu, aber auch ohne besondere Betonung.»Sie haben nie eine Situation ausgenutzt. und es gab einige. Danke, Enrico!«
Sie schwebte davon, und Worthlow schloß hinter ihr die Tür, so wie man den Vorhang nach dem letzten Akt zuzieht. Das Spiel war beendet.
«Mein Kompliment, Sir«, sagte er in seiner steifen Butlerart.»Ich schließe mich der Signorina an. Sie hatten das Glück, Miß Loretta anders zu sehen, als sie bisher ein Mann gesehen hat. Aber Sie waren klug, Sir.«
«Ich bin sauer, Worthlow, das ist alles!«sagte Volkmar laut.»Und jetzt besaufe ich mich, damit Sie das wissen! Werden hier die Op-fer tot oder noch lebend den Krokodilen und Löwen vorgeworfen?!«
Worthlow gab darauf keine Antwort, verbeugte sich korrekt und verließ Volkmars maurisches Gästehaus.
Kurz danach — Volkmar hatte sich an der Bar in der Halle darauf vorbereitet, so lange zu trinken, bis er auf den Teppich fallen würde — klingelte das Telefon. Er hatte fast darauf gewartet.
«Sie mußten sich noch hören lassen, Don Eugenio!«sagte er laut.»Es wäre sonst kein Abschluß gewesen. Trotzdem: Es war ein zauberhafter Abend!«
«Meine Tochter ist von Ihnen fasziniert, Dottore. «Sorianos Stimme klang väterlich stolz.»Sie sind der erste Mann, der sie aus ihrer Reserve gelockt hat. Für Loretta waren Männer Jäger, die ihrem Geld nachjagten. So ist sie auch erzogen worden. Wenn sie einmal heiratet, soll es echte Liebe sein. Erstaunlich, daß sie gerade Sie mit so anderen Augen sieht!«
«Soriano, sparen Sie sich Ihre vierfachen Saltos! Auch über Ihre Tochter führen Sie bei mir keinen Sinneswandel herbei!«
«Das würde ich auch nie wollen! Dr. Volkmar, ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Wenn Sie mit meiner Tochter.«
Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.
«Wann fliegen Sie mich nach Sardinien zurück, damit ich dort mit Anstand wieder auftauchen kann?«
«Wir besichtigen morgen das Altersheim.«
«Wie Sie das schaffen wollen, bin ich gespannt! Unter Narkose, und wenn ich aufwache, bin ich da? So ähnlich?«
«Dottore, ich bin betrübt, daß Sie mich für so primitiv halten. Wir sollten uns wirklich einmal sehr lange miteinander unterhalten, damit zwischen uns Klarheit herrscht. Gute Nacht! Schlafen Sie gut.«
«Besaufen werde ich mich!«schrie Volkmar ins Telefon.
«Worthlow wird am Morgen für einen extra guten arabischen Kaffee sorgen.«
Dr. Volkmar führte aus, was er angekündigt hatte. Aber trotz erheblichen Alkoholkonsums brachte er es noch fertig, sich auszuziehen und sich wie ein anständiger Mensch ins Bett zu legen. Bekleidet mit einem seidenen marokkanischen Schlafanzug.
Kapitel 5
Um elf Uhr vormittags holten ihn zwei Männer ab. Den einen kannte er nicht, er war klein, schmal, mit einem Mausgesicht und sehr höflich; den zweiten begrüßte er mit einem schiefen Lächeln: Es war Paolo Gallezzo, der Uhrmacher aus Palermo, den man den >Voll-strecker< nannte.
«Aha!«sagte Volkmar gepreßt. Sein Kopf brummte noch.»Jetzt geht's los, nicht wahr, Gallezzo? Für was haben Sie sich entschieden: Schlag auf die Kinnspitze und k.o. oder vorgezeigter Revolver oder Wattebausch mit Chloroform? Was ihr zwingen könnt, ist mein Körper. Aber ihr braucht mein Hirn. Und da kommt ihr nicht 'ran!«
«Sie sehen das alles zu filmisch, Dottore!«sagte Gallezzo, wie immer freundlich.»Wir drehen keinen dämlichen Hollywood-Schinken! Da wird alles mit Gewalt gemacht! Dummheit! Dr. Soriano — oder besser: Dr. Nardo kommt zu Ihnen mit einem Problem: Im Altersheim ist eine Frau schwer erkrankt, der man nicht helfen kann. Vielleicht können Sie es?«