«Trotzdem«, wandte sie ein.»Es bleibt manchmal unbegreiflich. Es heißt immer: Der einsamste Mann der Welt ist der Boxer im Ring. Ich glaube, ein Chirurg vor einem aufgeschnittenen Körper ist einsamer. «Dr. Soriano sah seine Tochter an. Diese Anschmiegsamkeit schien ihm nicht in seine Berechnung zu passen.»Gehen wir!«sagte er.
«Ich möchte noch die Wach- und Intensivstation sehen!«
«Aber gern!«
Sie verließen das Zimmer, setzten sich wieder in die >Rohrpost< und starteten.
«Für Loretta ist das nichts«, sagte Soriano, als sie hielten.»Ich schlage vor, wir treffen sie in zwei Stunden wieder im >Palermo Palace<. Dort werden wir zu Abend essen. Haben Sie einen besonderen Wunsch, Dottore?«
«Ja. Eine deftige Leberknödelsuppe und eine Schweinshaxe vom Grill.«
«Werden Sie bekommen. Loretta, bestell es schon immer im Palace! Sie haben dort einen Koch aus Graz, der wird's können!«Sie warteten, bis Loretta mit dem Lift nach unten fuhr, und sausten dann wieder in der Röhre herum. Mit einem Fahrstuhl ging es in den Keller, zwei Stockwerke tief. Volkmar sah Soriano kritisch an.
«Hier ist die Intensivstation?«
«Nein. Wir sind jetzt in einem Teil des Hauses, den nur ein paar Ärzte kennen. Sie wissen: Ich baue in den Bergen bei Camporeale eine große Kinderklinik und ein Kindererholungsheim. Aber das ist gewissermaßen nur das Firmenschild. In Wahrheit soll dort die modernste Herzklinik der Welt entstehen. Aber was dort einmal praktiziert werden wird, das wird hier vorbereitet. Was Sie gleich sehen werden, wird Ihnen geläufig sein von München her: Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen, Hunde, Affen, Schweine, Schafe. Der ganze Zoo, den man braucht, um an ihm für die Gesundheit der Menschen zu lernen.«
«Sie haben mich also doch überlistet, Don Eugenio. «Volkmar lehnte sich gegen die Kellerwand. Sie war weiß gekachelt wie im OP-Trakt und strahlte vor Sauberkeit. Dagegen sind unsere Vivisektionsräume Sauställe, dachte er. Und unsere Labors im alten Klinikum? Sprechen wir nicht darüber.
«Dr. Nardo kommt nicht weiter«, sagte Soriano.»Die längste Überlebenszeit, die er bei einem Hund erreicht hat, betrug fünf Tage. Da hat er gejubelt, so glücklich war er. Meistens gehen sie an Lungeninfektionen ein.«
Sie öffneten eine dicke, schalldichte Eisentür und kamen in einen Kellertrakt, der von unzähligen Tierstimmen erfüllt war. Das Gekreisch der Affen dominierte. Die Hunde bellten kaum noch, sie winselten nur beim Anblick der Menschen.
Von der anderen Seite des großen Raumes kam ihnen Dr. Nardo entgegen. Zwei Tierpfleger folgten ihm und starrten Volkmar, genau wie die Schwestern, an, als käme er von einem fernen Stern.
«Es ist alles in Ordnung«, sagte Dr. Nardo, bevor Volkmar fragen konnte.»Die Patientin wird in zehn Minuten intensiv versorgt sein.«
«Das ist das einzige, was mich interessiert!«antwortete Volkmar aggressiv. Er trat an einen Affenkäfig heran, in dem auf einer Art Matratze ein Schimpanse lag. Seine Brust war mit Verbänden umwickelt, er starrte die Menschen aus großen traurigen Augen an und rang nach Luft. Wenn er atmete, klang es, als rollten Bleikugeln über ein Trommelfell.
«Vorgestern operiert«, sagte Dr. Nardo.»Transplantation rechter Vorhof, Hohlvene und unterer Teil der Lungenarterie.«
«Schläfern Sie ihn ein!«Volkmar wandte sich ab. Die Qual der Tiere ergriff ihn immer wieder, obwohl er selbst seit Jahren mit ihnen arbeitete. Doch viele Großtaten der Medizin wären ohne Tierversuche nicht möglich gewesen. Daß der Mensch länger leben darf als früher, verdankt er dem Experimenttod des Tieres. Das ist eine furchtbare Wahrheit, aber wer kennt einen Ausweg?
Sie gingen in einen Raum, der wie eine Art Filmtheater aussah, mit Leinwand und einem Nebenraum für die Projektionsapparate. Ein Tierpfleger übernahm es unterdessen, den armen Schimpansen mit seinem halben fremden Herzen schmerzlos zu erlösen.
«Dr. Nardo zeigt uns jetzt seine Versuchsreihe!«sagte Dr. Soriano.»Seine Methoden, seine Erfolge, seine Niederlagen.«
Das Licht erlosch. Sie setzten sich in die weichen Sessel, hinter ihnen surrte der Filmgeber. Dann begann der Farbfilm, klar und deutlich unmittelbar am Operationstisch aufgenommen, zum Teil mit einer Makrolinse.
Schweigend beobachtete Volkmar, wie Dr. Nardo und seine Helfer das Herz eines Hundes teilweise heraustrennten und ein anderes Hundeherz an seine Stelle einpflanzten. Das war der rein technische Akt. Eingeblendet waren Tabellen mit den serologischen Un-tersuchungen, den Proteinzusammensetzungen, den Gewebeproben, den hämatologischen Werten. Dann ein Sprung von zwei Tagen: der gleiche Hund auf dem Seziertisch. Deutlich erkannte man, wie das eingepflanzte Herzstück vom Restherzen und allen Abwehrstoffen des Körpers zerstört worden war. Ein wertloses Stück Fleisch.
So ging es Film um Film, zwei Stunden lang. Für Dr. Nardo mußte es schrecklich sein: Er führte seine Kapitulation vor.
«Was machen wir falsch?«fragte Soriano, als die Lichter wieder angingen.
«Nichts — und doch alles!«
«Was soll das heißen?«
Soriano lehnte sich zurück. Dr. Nardo kam aus dem Vorführraum und setzte sich neben Dr. Volkmar. Soriano reichte Zigaretten herum. Dr. Volkmar hatte Appetit auf einen doppelten Kognak, aber zu trinken gab es hier nichts.
«Sie operieren genau wie wir, wie alle auf der Welt, die sich mit Herztransplantationen beschäftigen. Abgesehen von einigen Modifizierungen sind es die gleichen Operationsmethoden, die gleichen biologischen Untersuchungen, Vorbereitungen und Nachbereitungen. Und die gleichen Niederlagen! In Amerika, vor allem in Houston/Texas, schwört man auf die Zukunft des Kunstherzens aus Plastik. In Paris bevorzugt man die natürliche Methode: Menschenherz für Menschenherz, dafür weitgehende Ausschaltung der Abwehrstoffe im Körper. Das geht natürlich. Aber dann wird jeder Schnupfen sofort tödlich, und wer hustet, kann seinen Sarg bestellen. So weiterleben zu müssen ist auch nicht der Sinn eines neuen Herzens.«
«Aber der Anfang ist doch gemacht, Enrico!«sagte Soriano laut.
«Ein Anfang ist immer da — es fragt sich nur, wie lange der Anfang dauert! Schon im alten Ägypten machten die Ärzte Schädeltransplantationen, und man kannte den Knochenkrebs ebenso gut wie ein Dickdarmkarzinom! Alles Anfänge. und wie weit sind wir in fünfhundert Jahren Medizin mit dem Krebs gekommen? Gut: die Früherkennung. Die Operation. Die Nachbestrahlung. Chemotherapie. Aber seien wir doch ehrlich — und das ist für Mediziner sehr schwer! — , wo stehen wir wirklich? Haben wir Metastasen erkannt, dann reden wir mit schönen Worten immer nur drumherum. «Er zerdrückte seine Zigarette in einem Aschenbecher, der in der Rückenlehne des Vordersitzes eingebaut war.»Bei der Herztransplantation saugen wir noch die Muttermilch der Medizin, aber es sind widerspenstige Brüste!«
«Und Sie, Dottore?«fragte Soriano.
«Wieso ich?«
«Warum lebten bei Ihnen alle Tiere länger als bei anderen Herzchirurgen? Sagen Sie jetzt bloß nicht: Das sind Zufälle! Auch das, was Sie hier gesehen haben, waren deutsche Hunde und sozusagen deutsche Affen, die wir mit Klößen und Eisbein gefüttert haben! Ich habe über Fernschreiben alles heranholen lassen, was Sie publiziert haben und was man von Ihnen in Deutschland erzählt. Sie stellen sich dieses ganze Herztheater offenbar anders vor als andere Ärzte.«
«Um Tote ranken sich immer Legenden. Und ich bin ja amtlich tot!«
«Übermorgen ohne den geringsten Zweifel. Da wird Ihre Leiche angeschwemmt, das wissen Sie ja, Dottore. «Dr. Soriano legte die Hände gegeneinander.»Sie werden der erste Arzt sein, der ein Herz verpflanzen kann. Ich weiß das!«
«Das können viele Ärzte.«
«Herzen, die sich nicht abstoßen lassen?«
«Nein! Noch nicht.«
«Das ist es!«Soriano sprang auf.»Dieses noch ist die Zukunft. Für dieses noch sollen Sie wie ein lebender Gott behandelt werden! Wenn Sie >noch nicht< sagen, weiß ich, daß Sie einmal sagen werden: Jetzt haben wir's geschafft! Sie und ich — wir haben Zeit genug, darauf zu warten.«