Chef!Zum erstenmal fiel dieses Wort. Dr. Volkmar zuckte zusammen.
Chef. Chef einer Mafia-Klinik! Chef eines Ärzteteams, das mit jedem Griff ein Verbrechen beging. Chef einer Herztransplantation, die zu nichts diente als zum nackten Experiment am Menschen.
Er beugte sich über den offenen Thorax von Arrigo Melata und begann eine Operation, wie sie noch nie vollzogen, wie sie noch nirgends beschrieben worden war, wie sie vor Dr. Volkmar noch keiner erwogen hatte, weil sie — medizinisch gesehen — offenkundig Wahnsinn war.
Dr. Volkmar löste Melatas Herz heraus. Das ganze! Er durchtrennte alle zum Herzen führenden großen Gefäße vor den Abzweigungen, die an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen waren. Mit anderen Worten: Er hob das Herz einfach aus dem Brustkorb und drückte es dem völlig konsternierten Dr. Nardo in die Hände.
«Bringen Sie es Don Eugenio!«sagte er laut. Dr. Soriano hörte nebenan jedes Wort.»Herz, in Würfel geschnitten, mit einer süßsauren Soße, schmeckt gut! Dazu Dillgurken und frische Salzkartoffeln. Ein Genuß!«
Durch die automatische Glastür rannte ein Arzt mit Bisentis jungem Herzen in einer angewärmten Glasschüssel mit Sterillösung. Am OP-Tisch II hatte man es genauso ausgetrennt wie Melatas Herz. Man brauchte jetzt nur noch die großen Gefäße wieder miteinander zu verbinden. Nur noch zusammennähen.
Nur noch!
Dr. Nardo ließ Melatas Herz in einen Emaillekübel unter den OP-
Tisch plumpsen. Im Raum stand das Entsetzen.
«Das… das ist Irrsinn!«stammelte Dr. Nardo.»Das bekommen Sie nie wieder fest. Das reißt Ihnen überall ein. Ein Herz wiegt.«
«Ich hatte in Anatomie sehr gut!«sagte Volkmar tonlos.»Also kenne ich auch Herzgewichte und die Zugbelastbarkeit von Gefäßnähten! Haben Sie Teflon-Gefäßprothesen hier?«
«Nein!«sagte Dr. Nardo.
«Und das nennen Sie eine moderne Klinik?«schrie Volkmar gegen das Mikrophon im OP-Scheinwerfer.»Don Eugenio! Worauf sind Sie eigentlich stolz?! Chromblitzende Apparate sind kein Beweis von Modernität! Ein paar Stücke Teflon sind jetzt mehr wert als alle Ihre in diesem Haus verbauten Millionen!«
Er nahm das Herz des jungen Bisenti und begann es an die großen Gefäße von Melata anzuschließen. Atemlose Stille begleitete seine feinen Gefäßnähte, vor Erregung gerötete Augen begleiteten die neuen Verbindungen des alten Blutkreissystems mit der neuen, jungen Pumpe, dem blaßrosa Muskel, der Herz hieß und eines der letzten Geheimnisse des Menschen ist.
Es dauerte zwei Stunden. Dann richtete sich Dr. Nardo mit Rük-kenschmerzen auf und seufzte tief.
«Können Sie auf Normal umstellen?«fragte er. Das hieß: Blutkreislauf zurück in das neue Herz. Durch Elektroschock Beginn der Pumptätigkeit. Der größte Augenblick, den die Medizin je erlebt hatte: Schlug tatsächlich ein Herz, das man als Ganzes überpflanzt hatte? Gab es so etwas überhaupt? Oder zerplatzten sofort die Gefäßnähte, wenn der Pumpensog des jungen Herzens an den Aderverbindungen riß? Wurde aus dem geöffneten Thorax ein Springbrunnen, der eine Blutfontäne herausschleuderte?
«Sie Rindvieh!«sagte Volkmar erschöpft.»Wollen Sie auch noch eine Luftembolie hineinzaubern? Erst entlüften wir die Gefäße!«
Mit Klemmen unterbrach er die Gefäße und sah sein Ärzteteam an. Was er hier tat, war nun wirklich ein Vabanque-Spiel. Das Entlüften einer Aorta oder einer großen Hohlvene war kein Problem, es war chirurgischer Alltag, aber die gleichzeitige Entlüftung aller
Gefäße, die zum Herzen und vom Herzen kamen, hatte noch niemand praktiziert. Volkmar hatte es in seinem Experimentier-OP in München mit sieben jungen Chirurgen geübt, an Affen, Hunden und Schweinen. Es war meistens gelungen. Die späteren Todesursachen waren rein immunologischer Natur.
«Jeder ist für ein Gefäß verantwortlich!«sagte Volkmar hart.»Es mag für einen Mediziner dumm klingen, aber jetzt geht's auf Kommando. Wir schlagen hier eine Schlacht. Achtung!«
Der Blutkreislauf wurde von der Herz-Lungen-Maschine freigegeben an das neue Herz, die Klemmen wurden für eine Sekunde gelöst, Blut spritzte, aber mit dem Blutstrom entwich auch die Luft an den Nahtstellen. Dann zog Dr. Volkmar die letzte Schlinge zu, Gefäß nach Gefäß, und hatte das Herz endgültig angeschlossen. Gleichzeitig mit der >Entlüftung< hatte der Internist den Elektrostoß gegeben. Im Oszillographen, dessen elektronische Linie ganz ruhig leuchtete, begann ein Zucken und Flimmern, das neue Herz begann tatsächlich zu schlagen, das bleiche Gesicht Melatas füllte sich mit rosa Farbe, von den Anästhesisten kamen die ersten Pulswerte, die phosphoreszierende Herzfrequenzlinie auf dem Bildschirm stabilisierte sich, wurde in den Zacken gleichmäßiger. Die Atmung, bisher flach, hob sich.
«Zumachen!«sagte Volkmar leise. Er betrachtete noch einmal die Gefäßnähte und wußte, was früher oder später eintreten würde.»Und beten.«
Er trat vom Tisch zurück, warf seine Handschuhe weg und verließ den OP durch die automatische Glastür.
Es ist nicht üblich, daß in einem Operationssaal applaudiert wird, aber die Blicke der Ärzte, die Volkmar folgten, waren voll entsetzter Bewunderung.
Im Vorraum erwartete Dr. Soriano bleich und mit im Schoß gefalteten Händen den zum Umfallen erschöpften Volkmar. Er war wie gelähmt und stand nicht auf, als sich Volkmar stumm auf das Sofa an der Längswand warf und die Augen schloß.
«Sie sind ein Genie«, sagte Dr. Soriano mit einer Stimme, die noch keiner von ihm gehört hatte.»Nein, Sie sind kein Genie. Sie sind eine Hand Gottes! Mit Ihnen hat heute ein neues Jahrhundert begonnen!«
«Der Mann wird sterben. «Volkmar legte beide Hände über sein Gesicht.»Er hat keinerlei Chancen.«
«Natürlich wird er sterben.«
«Und er hat zwei Mörder: Sie und mich!«
«Beide waren bereits tot. Wenn Melata nur eine Stunde noch lebt, haben Sie einen Schöpfungsakt vollzogen, Enrico. Mein Gott, mir fehlen die Worte!«
Dr. Soriano starrte auf den Fernsehschirm. Dort sah man, wie das Team Dr. Nardos den Thorax wieder schloß. Der junge herzlose Körper von Leone Bisenti war längst aus OP II weggerollt worden und würde spurlos verschwinden. Das gleiche Schicksal würde Melata erleiden.
«Dr. Volkmar«, sagte Soriano nach einer Weile,»die neue, perfekte Herzklinik in den Bergen von Camporeale wird erst in einem halben Jahr fertig sein. Aber was Ihnen jetzt fehlt, sollen Sie sofort bekommen. Alle Maschinen, dieses Teflon, Laboreinrichtungen, alles. Wünschen Sie sich, was Sie wollen.«
Volkmar gab keine Antwort.
Er schlief. Seine Arme hingen herab auf den Marmorboden, seine Finger zuckten heftig. Er mußte Schreckliches träumen.
Arrigo Melata überlebte die Verpflanzung des Herzens genau siebzehn Stunden. Er lag in einem völlig sterilen Zimmer, keine Minute ohne Wache. Wer zu ihm wollte, wurde durch drei Vorkammern geschleust und dreimal keimfrei gemacht. Nach vier Stunden erwachte er sogar, war bei vollem Bewußtsein und wunderte sich, wo er war. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war der Autounfall. Dieser verdammte Steinhaufen, der auf der Straße lag, mitten drauf, hinter einer Kurve auch noch, in den er hineingesaust war, soweit man bei seinem alten Fiat von Sausen sprechen konnte. Nun lag er in einem weißen Bett, unter weißen Laken, angeschlossen an Schläuche, bewacht von einem Arzt und einer netten, jungen Schwester, die zu ihm sagte:
«Seien Sie ganz still, Signore Melata. Rühren Sie sich nicht. Sie sind sehr krank, aber wir schaffen das schon. «Und der Arzt lächelte stumm dazu.
Volkmar blieb im >Altersheim<, um zu kontrollieren, wie es weiterging. Daß Melata überhaupt die erste Stunde überlebte, daß er aufwachte, daß er klar bei Bewußtsein war, daß er sogar, entgegen allen Verboten, sprach —»Hat keiner einen Wein für mich?!«-, das allein war schon unfaßbar. Der Blutkreislauf funktionierte also, das Gehirn war genügend mit Sauerstoff versorgt, es hatte keine Ausfallerscheinungen gegeben, der gefürchtete Hirnzellentod war nicht eingetreten. Aber das hieß nicht, daß Melata auch nur den Bruchteil einer Chance hatte, zu überleben. Es war nur eine Frage der Zeit, und das war es, was Dr. Volkmar kaum ertragen konnte. Er hatte sich damit beruhigt, zwei Menschen, die schon klinisch tot waren, operiert zu haben. Und der Transport eines Herzens in einen anderen Körper war fast ein Obduktionsakt gewesen, eine Übung, die erste Anwendung einer neuen Operationsmethode. Daß Melata nun weiterlebte, ein vollwertiger Mensch war — wenigstens für einige Stunden — und doch ganz sicher sterben würde, weil er mit einem Herzen weiterlebte, das nur experimentell in ihm pumpte: das war für Volkmar keine medizinische Großtat, sondern ein Mord auf Raten.