Wenn er später in München dem Dr. Herbert Steinhaus, dem 1. Oberarzt der Unfallklinik, dieses Erlebnis erzählen würde, so wäre dessen Reaktion vorauszusehen.»So ein Rindvieh!«würde Dr. Steinhaus rufen.»Schneit ihm da kurz nach Mitternacht ein Mädchen halb nackt ins Zelt, und was macht er? Er bringt sie nach Hause! Junge, du hast doch eine Riesenmacke! Nichts wie 'rauf auf die Matratze! — das hätte Anna imponiert! Ich schwöre dir: Das ist das letzte Mal, daß wir dich allein in Urlaub lassen!«
«Kommen Sie, Anna!«sagte Volkmar und trat neben sie vor das Zelt. Er legte seinen Arm um ihre Hüfte, und sie schüttelte ihn nicht ab, was ihn beruhigte und leichtsinniger werden ließ.
Volkmars Wagen stand etwa vierzig Meter landeinwärts auf festem Boden. Dort, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte, im unmittelbaren Kontakt mit dem Meer und dem Wind, konnte kein Auto hinfahren. Es wäre im Sand versunken bis zu den Achsen. Jenseits des Sandes aber begann guter, fester Felsboden, hier standen Gruppen von verkrüppelten Palmen und Ölbäumen, breitkronigen Pinien und bizarren Zedern, alle vom Wind im Laufe der Jahrzehnte gebogen und mit Büschen verfilzt. Natur im Urzustand, bis eine Baugesellschaft entdecken würde, daß man an dieser Bucht ein Hotel oder ein Bungalowdorf hinsetzen könnte.
«Leben Ihre Eltern noch, Anna?«fragte Volkmar. Sie gingen durch den weichen Sand wie über einen schwingenden Teppich und taten das, was fast alle tun, wenn sie durch Seesand gehen: Sie staub-ten mit den Zehen den Sand vor sich her. Sein Arm lag noch um Annas Hüfte. Er spürte, wie ihre schmalen Muskeln beim Gehen spielten, wie ihr Gesäß hin und her schwang, und dämlicherweise fielen ihm alle lateinischen Namen dieser Muskeln ein, als würde er in Anatomie abgehört.
«Vater ist Fleischer«, sagte Anna und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Der Wind blies ihr Haar über sein Gesicht, es kitzelte, roch nach Salz und Kamillenblüten.
«Wir sind sieben Kinder, der Vater, die Mutter, die Nonna, ein blinder Onkel und ein blöder Vetter. Aber wir sind glücklich, Enrico. Papa wird dich umarmen, wenn ich ihm erzähle, was du für mich getan hast. Du kannst dir bestimmt soviel Fleisch aussuchen, wie du willst!«
Sie hatten den festen Boden erreicht, gingen zu der in völliger Dunkelheit liegenden Piniengruppe und blickten zum Meer zurück, weil Anna stehenblieb und leise, wie in kindlicher Einfalt, sagte:»Enrico, ist das schön.«
Als Volkmar sich wieder umdrehte, um weiterzugehen, war es zu spät. Es war unmöglich, so schnell zu reagieren, und es hätte ihm auch nichts mehr genützt.
Zwei junge Männer hoben sich als Schatten gegen die fahle Nacht ab. Sie hatten keine Messer in der Hand, sondern, unverkennbar, Maschinenpistolen. Die Läufe der Waffen waren aufVolkmar gerichtet. Eine harte Stimme sagte:»Hands up!«Unter den Pinien entdeckte Volkmar jetzt auch einen Jeep mit geschlossenem Segeltuchverdeck.
Anna, die hinter ihm stand, schob sich vor ihn und lachte leise.
«Er heißt Enrico, und er spricht gut italienisch. Er ist allein. «Dann drehte sie sich zu Volkmar um, streichelte ihm fast zärtlich über das Gesicht und spitzte die Lippen zu einem Flugkuß.»Das sind meine Brüder Luigi und Ernesto«, sagte sie.»Es sind gute Jungen, Enrico. Wenn du machst, was sie sagen, tun sie dir nichts. Aber wenn du dich wehrst, müssen sie schießen. Das siehst du doch ein?«
«Wer sieht das nicht ein?«Volkmar kam näher. Kurz vor den Läu-fen der Maschinenpistolen, die auf seinen Leib zeigten, blieb er stehen. Er konnte jetzt Luigi und Ernesto erkennen. Sie waren eine männliche Ausgabe von Anna. Nur der Ausdruck ihrer Augen war nicht so sanft. Sie musterten Volkmar kritisch und abwartend. Ihre Zeigefinger lagen am Abzug der MPi.
«Was bist du?«fragte der ältere der beiden. Es war Luigi.»Amerikaner, Engländer, Schweizer, Deutscher.«
«Deutscher. Wenn ihr euch das Nummernschild meines Wagens angesehen hättet. Überhaupt, ist das jetzt so wichtig?«
«Ja! Deutscher, das ist gut!«sagte Ernesto.
«Wie man's nimmt. Es gibt viele Deutsche, die etwas dafür gäben, nicht Deutscher zu sein. «Er nickte zu Anna hinüber, die zum Jeep gegangen war, um die zerrissene Bluse zu wechseln. Einen Moment sah er im fahlen Licht des Sternenhimmels ihre schönen nackten Brüste, bis eine Jeansjacke sie verdeckte.»Euer Lockvogel ist wirklich unwiderstehlich. Aber was nun?«
«Sie wehren sich nicht?!«
«Hat es Sinn? Also!«
«Sie kommen mit uns in die Berge, und dann sehen wir weiter.«
«Ein ausgereiftes Kidnapping!«Volkmar lächelte breit. Er gestand sich ein, vor ein paar Sekunden noch Angst gehabt zu haben, irre Angst sogar, denn auch ein Held blickt selten gelassen in zwei Maschinenpistolenläufe. Jetzt aber, nachdem er den ersten Schreck überstanden hatte, setzte bei Volkmar wieder das klare Denken ein. Er bewunderte sich selbst: Er fand die Situation komisch.»Wenn ihr nicht eure dummen Knaller in den Händen hieltet, würde ich euch mein Bedauern aussprechen. Ihr habt das untauglichste Objekt eingefangen, das ihr an Sardiniens Küste finden konntet. Annas Sex war eine Fehlinvestition bei mir! Ich kann euch das erklären.«
«Mitkommen!«sagte Luigi und winkte mit der MPi zu dem Jeep.»Gehst du freiwillig, oder müssen wir nachhelfen?«
«Ich habe mich nie gewehrt, wenn es sinnlos war. «Dr. Volkmar ging zu dem Jeep und kletterte hinein. Auf der hinteren Sitzbank hockte bereits Anna und zog ihn an ihre Seite. Ihre Oberschenkel berührten sich, sein Ellbogen stieß gegen ihre Brüste, als er sich setzte. Obgleich er nun wußte, in welch simple Falle er getappt war, empfand er diese neuerliche Begegnung als angenehm.
Vor ihm schwangen sich Luigi und Ernesto auf die Sitze, der Motor knatterte, der Jeep begann zu hüpfen und machte einen ohrenbetäubenden Lärm.
«Ihr solltet euch einen neuen Auspuff leisten«, sagte Volkmar und lehnte sich zurück. Dann, als der Jeep zu fahren begann und bedrohlich wankte, hielt er sich an Annas Schenkel fest. Das bot sich so an.»Und der Motor ist eine Katastrophe! Da hackt ja jeder Zylinder.«
«Aber die Berge hinauf fährt er noch!«Ernesto lachte laut.»Du wirst uns einen neuen, schönen Wagen kaufen, Enrico.«
«Das wird ein Wunschtraum bleiben.«
«Abwarten, camerata!«
«Ich muß dir jetzt die Augen verbinden«, sagte Anna wenig später, als sie die Straße nach Cabras erreicht hatten.»Wenn du die Binde abreißt.«
«Ich weiß, ich weiß, dann schießen deine Brüder. Bitte!«
Er hielt den Kopf hin, sie verknotete hinter seinem Schädel eine breite, schwere Wollbinde und drückte ihn dann in den Sitz zurück. Sicherlich war es nur Zufall, daß irgend etwas seine Lippen berührte. Es war warm und weich.
«Anna«, sagte Volkmar und tastete mit der rechten Hand ins Leere. Sie ergriff seine Hand, und an der Wärme, die seine sensiblen Chirurgenfinger plötzlich umfing, erkannte er, daß sie in Annas Schoß lagen.»Du bist eine — wie sagt man das italienisch — eine carogna! Ein Luder!«
«Wir haben ein schönes Haus in den Bergen. «Sie streichelte seine Hand.»Es wird dir sicherlich bei uns gefallen. Hoffentlich müssen Luigi und Ernesto dich nicht erschießen.«
Die Fahrt dauerte drei Stunden.
Man fuhr durch Ortschaften, das hörte Volkmar am Klang der Reifen auf den Pflastern, dann wurden die Straßen enger und holpriger, man befand sich jetzt wohl in der Bergregion, wo es nur einen steinigen Pfad gab. Der Jeep keuchte und jammerte, die Zylinder stöhnten und stampften, der verrostete Auspuff dröhnte, als entlüfte er eine Flugzeugdüse.