Dr. Nardo, bleich, ausgelaugt von den vergangenen Stunden, aber von einer ungeheuren Zähigkeit, überwachte die Intensivstation mit zwei Internisten und einem Anästhesisten. Kein Zucken in Melatas Körper entging ihnen und den elektronischen Aufzeichnungsgeräten. Jede Minute, die Melata länger lebte, erschien als Wunder.
Volkmar kam viermal in den ersten Vorraum und ließ sich berichten. Er besuchte auch die alte Frau mit dem befreiten Panzerherzen. Sie küßte ihm die Hände, als man ihr sagte, er sei der Arzt, der sie gerettet habe, sie flehte die Madonna an, ihm ein langes Leben und viel Glück zu schenken, und weinte vor Dankbarkeit. Daß sie das schon einmal gleich nach der Narkose gemacht hatte, wußte sie nicht mehr. Jetzt, nachdem sie wieder Wein trinken durfte und Kalbsragout aß — was es zu Hause nie gegeben hatte, weil Kalbfleisch zu teuer war —, glaubte sie wieder an das Leben. Man brauchte sie noch, die Nonna, auch wenn sie im Altersheim lebte.
Nach sechs Stunden meldete Dr. Nardo:»Der Patient bekommt Fieber!«
«Das Ende!«sagte Volkmar.»Dr. Soriano, wollen Sie das auch miterleben?«
«Ich bleibe bei Ihnen, Enrico. Natürlich.«
«Sie kümmern sich wohl überhaupt nicht mehr um Ihre Anwaltspraxis?«
«Ich habe vier gute junge Anwälte in der Kanzlei.«
«Und Ihr Name ist nur ein Aushängeschild?«
«Meine Sache sind die großen Fälle.«
«Die internationalen. Die unsichtbaren Fälle. Die berühmte Cosa nostra!«
«Ich habe ein Altersheim gestiftet, ein Musterheim! Ich baue eine Kinderklinik mit Waisenhaus, ebenfalls einzigartig in Form und Gestaltung. Und ich baue, wenn auch der Öffentlichkeit noch verborgen, das beste Herzzentrum der Welt. Irgendwoher muß das Geld ja kommen, Dottore.«
«Für Ihre doppelte Moral gibt es noch keinen Namen. «Volkmar hob die Schultern, als friere er.»Also kommen Sie, Don Eugenio. Setzen wir zwei Mörder uns neben unser Opfer.«
Sie durchliefen die drei Immunschleusen und betraten das Zimmer, in dem Melata, durch die vielen Infusionsschläuche und Drähte zu den Meßgeräten fast unsichtbar, in seinem Bett lag. Dr. Nardo, ein zweiter Arzt und zwei Schwestern, alle mit Mundschutz, standen um das Bett.
«39,6!«sagte Dr. Nardo.
Volkmar nickte, ging zu Melata und beugte sich über ihn. Der Mann mit dem neuen Herzen sah den fremden Arzt etwas ängst-lich an. Schmerzen hatte er nicht, ihm war nur abwechselnd heiß und kalt.
«Hat er sich bewegt?«fragte Volkmar über die Schulter.
«Wie kann er das bei den Drähten?«
«Soriano, machen Sie Ihren Ärzten klar, daß ich derart saudumme Antworten nicht dulde. Natürlich kann man sich trotz der Drähte bewegen. «Er hörte das neue junge Herz ab. Es flatterte etwas. Er maß den Blutdruck, den Puls, kontrollierte die Farbe der Schleimhäute in der Mundhöhle und unter den Augenlidern. Sie waren blaßrosa.
«Es tröpfelt!«sagte Volkmar leise.
«Wie bitte?«
«Eine Gefäßnaht ist bereits leck. «Er richtete sich auf und trat vom Bett zurück. Melata hatte nicht verstanden, worum es ging. Er begriff nur nicht, warum er bei seinem Riesendurst keinen Wein erhielt.
Dr. Volkmar trat an das Fenster und blickte hinaus auf den herrlichen Park, in den man das >Altersheim< gebaut hatte. Die Ärzte und Dr. Soriano standen dicht hinter ihm.
«Wieder aufmachen?«fragte Dr. Nardo leise.
«Wozu? Die Immunreaktion setzt ja auch schon ein. Sie haben doch alles, was Sie wollten: Man hat ein ganzes Herz transplantiert, Sie haben gesehen, daß es technisch geht. Wenn man jetzt noch die Immunschranke überwindet und einen Weg findet, daß Gefäßnähte rundherum ein ganzes Herz aushalten, dann könnte man sagen, das Herz eines Menschen ist zum Austauschmotor degradiert.«
«Sie werden es schaffen, Dottore!«sagte Dr. Soriano hinter ihm.
«Nein!«
Eine klare Antwort, aber keiner nahm sie ihm ab. Man bewertete sie als Ausdruck der Opposition.
«Und wie geht es weiter?«fragte Soriano.
«Wenn wir merken, daß die inneren Blutungen zu stark werden und weitere Gefäßnahtrisse auftreten, wenn dazu noch die Immunreaktion kommt, dann sollte man ein gnädiger Mörder sein,
Don Eugenio!«Volkmar fuhr herum. Er sah erschreckend aus, bleich, eingefallen, um Jahre gealtert. Ein Mensch, der sich verloren hat.»An diesem Tag, Dr. Soriano, werde ich zerbrechen! Dieser heutige Tag hat den deutschen Chirurgen Dr. Volkmar ausgelöscht! Ist Ihnen das klar?«
«Das wollte ich, Dottore. «Dr. Soriano blickte ihn offen und ohne das geringste Zeichen von Grausamkeit an.»Was auf Sie wartet, darf keine Vergangenheit haben. Es gibt Sie nicht mehr, Dottore. Aber es wird einen Arzt geben, wie es ihn auf dieser Welt kein zweites Mal gibt!«
Der Verfall Arrigo Melatas beschleunigte sich nach dem Gesetz der schiefen Ebene. Von Stunde zu Stunde ging es schneller bergab.
In der zehnten Stunde nach der Operation verlor er das Bewußtsein. Er verlor es glücklich lächelnd, denn da nichts mehr zu verlieren war, erlaubte ihm Volkmar ein Glas Rotwein. Melata trank es mit einem heiligen Durst, streckte sich dann wohlig aus und verließ geistig diese Welt. Puls, Blutdruck, Herzfrequenz zeigten unmißverständlich an, daß Melata nach innen verblutete. Zunächst noch zögernd, aus kleinen undichten Stellen der Nähte, aber mit dem Blutdruck würden sich die Lecks weiter aufsprengen und der Blutfluß sich in die Brusthöhle ergießen. Auch die Abstoßreaktionen machten sich bemerkbar. Das Fieber stieg auf 41,3. Ein Körper, der etwas Fremdes in sich spürt, reagiert schnell und massiv. Es ist wie eine Generalmobilmachung: Alle Armeen der Abwehrstoffe marschieren los gegen den eingedrungenen Feind.
Melata spürte nichts mehr. Hier ist die Natur seltsam gnädig, so grausam sie sonst sein kann. Dr. Nardo hatte alle Infusionen abstellen lassen, nur noch die Meßgeräte waren angeschlossen. Ein Körper, der Daten von sich gab, Funktionsäußerungen, weiter nichts. Das war von Melata, 54 Jahre, Mechaniker, Vater von drei Kindern, übriggeblieben.
Nach siebzehn Stunden, als die elektronischen Bilder anzeigten, daß Melatas Herz ohne Blutversorgung war und auch das EEG schwieg, ließ Volkmar alles abstellen. Volkmar verließ das Zimmer und wartete in der ersten Schleuse, bis Dr. Soriano nachkam.
«Dr. Nardo wird ihn obduzieren. Wollen Sie dabeisein?«fragte er.
«Wozu? Der Befund ist klar.«
«Dann schlage ich ein exzellentes Nachtessen vor, Dottore.«
«Jetzt? Essen?!«Volkmar lehnte sich gegen die weißgekachelte Wand.»Ich würde Ihnen jeden Bissen ins Gesicht spucken, Don Eugenio!«
«Ich wette: Sie tun es nicht!«Dr. Soriano lächelte breit.»Worthlow hat auf Ihrem Dachgarten alles für ein Festmahl gedeckt. Loretta selbst überwacht die Küche.«
«Loretta?!«Dr. Volkmar starrte Soriano aus trüben, roten Augen an. Er fühlte sich so elend, daß seine Knie zitterten, nur die Kachelwand hielt ihn noch aufrecht.
«Sie ist vor zwei Stunden in Palermo gelandet. Als Sie die Operation beendet hatten, habe ich ihr telegrafiert: >Engelchen, komm zurück. Enrico schmeckt kein Essen mehr ohne dich!< — Und sie nahm die nächste Maschine nach Palermo!«Soriano öffnete die Tür.»Sie werfen mir keine Fasanenbrust an den Kopf — wetten?«