«Ich habe seinen Wagen oben im Wald.«
«Wir wissen. Wir fahren voraus. Können Sie fahren? Ich meine — nach dieser Nachricht.«
«Natürlich fahre ich! Ich muß ihn sehen. «Sie ging an den Polizisten vorbei, hinauf zu Giovannis Hütte. Ihr Gang — aber dafür konnte sie nichts, er war nun einmal so, wie Recha ihn beschrieben hatte: Sie wiegte sich in den Hüften, und wer ihr nachblickte, als Mann, ließ seine Phantasie spielen.
In der Hütte zog sie sich um, packte ihren Koffer, legte Giovanni einen Haufen Lirescheine auf den Tisch, ohne sie zu zählen, und sagte:»Leben Sie wohl, Giovanni. Alles Gute, Recha! Wir werden uns wohl nie wiedersehen!«Dann verließ sie die Familie Respona-tore. Und wunderbarerweise begann Recha zu weinen und begleitete Dr. Blüthgen bis zu dem Auto auf der Höhe im Pinienwald und winkte ihr so lange nach, bis der Wagen vom weiten Horizont aufgesogen wurde.
«Bist du verrückt?!«schrie Giovanni, als Recha zurückkam.
«Sie war eine gute Frau.«
«Auf einmal?!«
«Sie ist für immer weg! Eine gute Frau.«
Es ist einfacher, von Haien zerrissene Netze zu flicken, als in die Abgründe einer Frauenseele zu blicken.
Kapitel 8
Im Kommissariat von Cabras, einem uralten, gelbgestrichenen Haus mit schiefen grünen Schlagläden, in dem es immer muffig roch und dessen zwei Untersuchungszellen im Keller gefürchtet waren, weil hier der Schimmel an den Betonwänden hochkroch, empfing man Dr. Angela Blüthgen wie die Königin von Thailand. Der Kommissar küßte ihr die Hand, ein anderer höherer Offizier servierte Kognak, ein dritter Beamter in Zivil — er war der stellvertretende Bürgermeister, wie sich später herausstellte — brachte in einer großen geschnitzten Holzschale süßes sardisches Gebäck. Man tat also, mit südländischem Charme, alles, um Angela zunächst zu beruhigen, innerlich zu festigen, vielleicht sogar aufzuheitern. Sie nahm das alles ziemlich unbeteiligt hin und wartete nur darauf, den Toten zu sehen.
Es ließ sich nicht länger hinauszögern: Die drei Beamten setzten eine Trauermiene auf, und der Kommissar entledigte sich seiner Verpflichtung, zunächst das Protokoll der Auffindung vorzulesen. Auch dabei entwickelte er unbehördlichen Charme: Er ließ die Beschreibung des Toten aus. Nur am Rande, gewissermaßen als Vorbereitung für die Identifizierung, erwähnte er, daß eine exakte Personenbestimmung vielleicht nur noch durch einen Gebißvergleich möglich sein werde. Ob es in Deutschland einen Zahnarzt gäbe, der Dr. Volkmar ständig behandelt habe?
«Ja«, antwortete Angela gepreßt.»Dr. Weissner in München. Heinz war sehr genau mit seinen Zähnen. Jedes Vierteljahr ging er zur Kon-trolluntersuchung.«
«Sehr lobenswert!«Der Kommissar erhob sich.»Das hilft uns weiter. Möchten Sie Herrn Dr. Volkmar trotzdem sehen?«
«Ja. «Sie warf den Kopf weit in den Nacken. Gott, gib mir Kraft, dachte sie. Ich möchte zu ihm sagen, zu dem, was von ihm übriggeblieben ist, daß ich ihn wirklich geliebt habe. Ich war das größte Schaf unter den Liebenden. Alles wäre nicht passiert, wenn ich anders zu ihm gewesen wäre. Dann hätten wir zusammen in Sardinien Urlaub gemacht. Er wäre nie ertrunken. So bleibt gerade das rätselhaft: Ein Mann, der wie Volkmar schwimmen konnte, ertrinkt in einem fast unbeweglichen Meer. - Man wird es nie erklären können.
«Bitte!«Der Kommissar sah kurz die anderen Herren an. Der stellvertretende Bürgermeister verzichtete darauf, mit in den Keller zu gehen. Der Arzt hatte ihm 230 Blutdruck bestätigt. Aufregungen und Anblicke solcher Art konnten zu Komplikationen führen.»Ich möchte nur noch sagen, Signora.«
«Ich bin Ärztin, Herr Kommissar!«
«Trotzdem.«
«Ich habe auf Unfallstationen gearbeitet, bis ich mich spezialisierte für Innere Medizin.«
«Der vorliegende Fall.«
«Ich habe auch obduziert, Herr Kommissar. Bitte!«
Der Kommissar hob hilflos die Schulter und trat den schweren
Gang zum Keller an. Man hatte einen besonders kühlen Raum gewählt, der penetrant muffig roch. Das alte verrostete Schloß knirschte, als sich der Schlüssel drehte, die Tür quietschte in den schmiedeeisernen Angeln. Alles gute, alte Handarbeit aus dem vorigen Jahrhundert.
Der Tote lag auf einer einfachen Pritsche, mit einem weißen Tuch völlig zugedeckt. Nur die nackten Fußsohlen ragten hervor, vom Salzwasser wie angefressen. Ein Polizist, der sie von der Kellertreppe an begleitet hatte, stellte sich an das Kopfende der Pritsche und starrte die schöne Signora an. Der Kommissar stand hinter ihr, um sie mit geübtem Griff aufzufangen, wenn sie umkippte. Er hatte schon viele Hinterbliebene, die identifizieren mußten, in den Armen gehalten.
«Bitte den Kopf«, sagte Angela leise.»Nur ihn.«
«Signora!«Der Kommissar schluckte krampfhaft.»Gerade der Kopf.. Ich — ich habe etwas im Protokoll ausgelassen: Dr. Volkmar muß in eine Schiffsschraube geraten sein.«
«Bitte!«
Sie zog das Kinn an und stellte sich die Leichen in der Anatomie vor. Zum Teil schon von anderen Studenten seziert, zerschnippelt, teilweise wegpräparierte Fleischteile von Menschen auf Marmortischen und Zinkwannen. Aber da lag Heinz Volkmar, kein unbekannter Toter, vereist oder aus einer Formalinlösung gefischt. Da lag ihre Liebe, die sie immer unterdrückt hatte, die sie abgewertet hatte zu einem biologischen Akt.
«Bitte!«sagte sie wieder, kaum hörbar.
Der Polizist lüftete das weiße Laken über dem Kopf des Toten. Er wurde kalkig im Gesicht, aber er hielt durch.
Dr. Angela Blüthgen trat näher an die Leiche heran und blickte stumm auf den Kopf, der kein Kopf mehr war. Auch die gesamte Schulter- und Thoraxpartie war zerstört. Zerfetzt, zerschnitten, teilweise weggerissen. Es war wirklich nur noch möglich, diesen Menschen an seinem Gebiß zu erkennen.
«Ist die linke Hand noch vorhanden?«fragte sie tonlos.
«Signora?«
«Die linke Hand!«
«Ja.«
Der Polizist deckte schnell den Kopf wieder zu und lüftete die linke Seite. Am Ringfinger der Hand steckte ein schmaler goldener Ring mit einem Karneol.
Angela deckte selbst das weiße Tuch über den Körper und trat von der Pritsche zurück.»Es ist mein Ring«, sagte sie dumpf.»Ich habe ihn Heinz zu Weihnachten geschenkt. Der Tote ist Dr. Heinz Volkmar. «Und dann tat sie etwas, was den Kommissar und den Polizisten für den Rest ihres Lebens daran glauben ließen, daß im Ernstfall eine Frau mehr Stärke besitzt als jeder Mann.
Sie beugte sich über den zugedeckten Kopf und sagte ruhig:»Heinz… ich liebe dich!«
Mit einem Ruck trat sie darauf zurück und flüchtete fast bis zur Kellertür.
«Kann ich ihn mitnehmen?«fragte sie auf dem Rückweg.»Er soll in Deutschland begraben werden.«
«Wir werden die Sache so schnell und unbürokratisch wie möglich regeln, Signora. «Der Kommissar führte sie aus dem Keller und die Treppe hinauf.»Aber der Gebißvergleich ist nötig. Sie verstehen.«
Sie nickte, ließ sich in das Kommissarzimmer bringen, und dort erst brach sie zusammen, sank auf einen der Stühle und weinte haltlos.
Man ließ sie allein mit Wein, Kognak und Gebäck. Sie war unsäglich dankbar dafür, denn nur das Alleinsein konnte sie noch ertragen. Jetzt Menschen zu sehen, zu hören, hätte ihre Nerven zerrissen.
Im Nebenzimmer füllte der Kommissar die Formulare zur Freigabe der Leiche und zur Überführung nach Deutschland aus. Nur noch der Staatsanwalt mußte unterschreiben.
Name: Volkmar, Heinz. Dr. med. München. Unfalltod durch Ertrinken. Einwandfrei identifiziert durch seine Braut, Frau Dr. A. Blüth-gen, München, durch Badehose, Ring am linken Ringfinger und Gebiß. Der Raum für das Vergleichsfoto war noch frei — aber das war nur noch eine Formsache.