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Ein paarmal hatte Volkmar versucht, mit Ernesto und Luigi ein Gespräch zu beginnen. Er wollte ihnen erklären, daß sie ihr Benzin verschwendeten; er sei keine kapitalkräftige Geisel. Aber die Brüder gaben keine Antwort. Volkmar mußte sich an Anna halten.

«Einen Fehler macht jeder. Hör zu, Anna, und laß dir das erklären…«

Sie legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen, und als er ihn küßte, drückte sie seine Hand fester in ihren Schoß.

«Sei still!«sagte sie leise.»Versuch, etwas zu schlafen.«

«Bei dem Lärm und dem Gehüpfe? Anna, es ist zu blöd, was ihr da macht!«

Endlich hielt der Jeep. Das Verdeck wurde zurückgeklappt, Anna zog Volkmar vom Sitz und nahm ihm die Binde ab. Um ihn herum war eine Felslandschaft, und in die bizarr zerklüfteten, von Erosionen zerfressenen Felsen hatte man ein Haus gebaut, aus Urgestein, auf ein Plateau geklebt wie ein Adlerhorst. Ein kleiner Garten war da entstanden, wo bearbeitbarer Boden vorhanden war, eine offene Rinne aus Holz führte zu einem dumpf rauschenden Wasserfall, der aus einer Steilwand stürzte.

Luigi und Ernesto kümmerten sich nicht um Volkmar. Sie stemmten die Motorhaube des Jeeps hoch und betrachteten stumm den dampfenden Motor.

«Hier wohnen wir«, sagte Anna.

«Sieben Kinder, Vater, Mutter, Nonna«, ergänzte Volkmar wie ein aufmerksamer Schüler.

«Das war gelogen. Wir wohnen hier allein. Mama ist gestorben, Papa wurde bei einer Vendetta erschossen. Und noch zwei Brüder. Wir sind geflüchtet, nachdem Luigi und Ernesto die andere Fami-lie ausgelöscht haben. Aber die Polizei, die verdammte Polizei!«

Volkmar sah sich um. Am Tage mußte es hier wunderbar sein. Sicher ging der Blick in die Weite und schenkte dies Gefühl von absoluter Freiheit, das trunken machte. Aber Anna und ihre Brüder lebten hier als Banditen. Für sie war die Natur nur eine Festung.

Luigi und Ernesto schienen sich einig zu sein, daß der Jeep weitere solcher Einsätze nicht mehr durchstehen würde. Sie hieben die Motorhaube zu und blickten Volkmar böse an, als sei er schuld. Ernesto entzündete eine Petroleumlampe, die auf einem Mäuerchen stand, und ging voraus zu dem wuchtigen Steinhaus mit dem Dach aus übereinandergeschichteten Felsplatten. Sie wußten, wie auch Volkmar selber, daß ihr Gefangener hier nicht weglaufen konnte. Sie legten die Maschinenpistolen ab und überließen es Anna, sich um den >Gast< zu kümmern.

«Hast du Hunger?«fragte sie. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn wie einen Blinden zur Haustür. Luigi hatte drei Lampen angesteckt. Sie erhellten einen Raum mit geweißten Wänden, selbstgezimmerten Möbeln und einem riesigen gemauerten Ofen mit eiserner Herdplatte. Auch ein Grill fehlte nicht. Lammfelle lagen überall herum, auf den Stühlen, auf der gemauerten langen Bank am Ofen, auf den rohen Dielen. Im Herd glomm noch ein schwaches Feuer, das Ernesto mit einigen Holzstücken anfachte.»Ich kann dir eine Pizza machen, Enrico«, sagte Anna.

«Eine Pizza ist gut!«rief Luigi. Er saß in einem Holzsessel, hatte die Beine auf den Tisch gelegt und erholte sich von der Fahrt.»Oder hast du keinen Hunger, Enrico?!«

«Gar keinen. «Volkmar setzte sich auf die mit einem Lammfell belegte Bank und sah Anna zu, wie sie aus einem Schrank in einer Mauernische einen Klumpen fertigen Pizzateiges auf ein Holztablett warf. Ernesto, der hinausgegangen war, kam zurück mit einer Zweiliterflasche und brachte auch gleich vier scheußlich bemalte Blechbecher mit, wie sie in den Souvenirläden den Fremden als sar-disches Handwerk angeboten werden.

«Vielleicht will er schlafen?«sagte Ernesto.»Bist du müde?«»Nicht besonders.«

Volkmar beobachtete, wie Anna den Backraum des großen Steinherdes kontrollierte. Anscheinend war sie mit der gespeicherten Hitze zufrieden.

«Wir haben nur Tomaten und Käse«, sagte sie.»Aber ich würze gut. Es wird dir schmecken, Enrico.«

«Bestimmt.«

Es schmeckte in der Tat vorzüglich. Volkmar aß zwei Pizza und trank so viel Wein, daß er sein Gehirn leicht vernebelte.»Wo kann ich schlafen?«fragte er, als er sah, daß die Brüder noch lange nicht mit ihrer Mahlzeit fertig waren. Anna buk mit einer Geduld ohne Beispiel eine Pizza nach der anderen. Die Haare hingen ihr verschwitzt, nach Käsedunst duftend, ins Gesicht.

«Auf der Bank!«rief Luigi und prostete Volkmar zu.»Trinken wir auf den Erfolg, camerata! Du bist mein erster Gefangener!«

«Das habe ich befürchtet«, sagte Volkmar und streckte sich auf die Lammfelle aus.»So dämlich sind nur Amateure in eurem Fach!«

Er sollte sich irren.

Ein sonnendurchfluteter Tag kündigte sich an, als Volkmar am nächsten Morgen vor das Haus trat. Er reckte sich, atmete tief durch, und dann entdeckte er Anna, die aus der Holzrinne Wasser in einen Eimer schöpfte. Auch Luigi und Ernesto waren schon auf den Beinen, lachten Volkmar wie einem guten alten Freund zu und zeigten auf den Tisch, der auf einer Art Terrasse stand. Hinter dem doppelten Geländer fiel der Felsen senkrecht ab. Wer hier Kaffee trinken wollte, mußte schwindelfrei sein.

«Brot, Käse, Wein… zufrieden?«rief Luigi.»Wir haben mit dem Frühstück auf dich gewartet, Enrico.«

«Sehr zuvorkommend. «Volkmar stieg die Stufen zur Terrasse hinunter.»Eure Gastfreundschaft rührt mich.«

«Anna wollte es so.«

Ernesto drückte Volkmar die Hand, dann kam Luigi, klopfte ihm auf die Schulter, und alle setzten sich. Anna stellte den Wassereimer ab und goß die Blechbecher voll. Sie setzte sich an Volkmars Seite.

Luigi grinste.»Fangen wir an, über uns zu reden«, sagte er und stach mit dem Messer in einen Klumpen Schafskäse.»Wieviel, glaubst du, bist du wert?«

«Gar nichts.«

«Kann man für dich eine Million verlangen?«

«Lire?«

«Deutsche Mark.«

«Das ist es, was ich euch die ganze Zeit sagen wollte: Wenn es euch gelingt, für mich auch nur zehntausend Mark herauszuholen, verspreche ich euch, wieder an Wunder zu glauben. Bei mir ist nichts zu holen.«

«Du bist ein reicher Deutscher!«

«Nicht jeder Deutsche ist reich. Verrückt, wie sich diese Ansicht hält bei den anderen Völkern!«

«Was bist du?«

«Arzt!«

«Ernesto, er ist Arzt!«rief Anna.»Wir haben einen Dottore!«

Luigi schien weniger begeistert zu sein. Ihm wäre jeder andere Beruf lieber gewesen. Ein reicher Kaufmann, ein Fabrikbesitzer, ein Juwelier, ein hoher Staatsbeamter oder ein Bankdirektor — warum nicht? Aber ein Arzt? Nun ja, da gibt es Unterschiede. Wenn man an den alten Dottore Francesco Mammola in Fanni, der nächsten größeren Stadt von hier, dachte, konnte man nur mitleidig lächeln.

«Ärzte sind reich!«sagte Luigi laut.

«Ich bin Klinikarzt, mein Lieber.«

«Im Hospital?«Luigi stieß sein Messer in den Schafskäse.»Scheiße!«

«Ich sage es ja, aber niemand wollte es hören. Wir hätten uns schon am Strand trennen können.«

«Irgendeinem Menschen mußt du doch was wert sein!«rief Ernesto.

«Wem?«Angela Blüthgen, dachte Volkmar. Sie würde ihr Sparbuch hergeben, aber über solche Beträge reden Entführer nicht. Mein Chef, Professor Hatzport? Der ist Millionär. Ist aber kaum anzunehmen, daß er meinetwegen seine Villa in Grünwald und sein Haus bei Beaulieu an der Riviera verkauft und den Erlös nach Sardinien überweist. Das Land Bayern, mein Arbeitgeber? Da gäbe es unüberwindliche Zuständigkeitsfragen.

«Ich habe keinen, der für mich bezahlt«, sagte Dr. Volkmar.

«Deine Familie!«

«Ich habe keine mehr. Ihr rottet euch mit der Vendetta aus, bei uns hat das der Krieg besorgt. Mein Vater war der einzige Überlebende. Er wurde neunundachtzig Jahre alt. Er starb vor drei Jahren.«

«Das Hospital!«schrie Luigi. Er sah langsam ein, daß er nur einen Mitesser gefangen hatte, aber keinen, der ihm den Tisch über Jahre hinaus deckte. Eine solche Erkenntnis kann deprimieren.

«Versuch es! Es wäre ein Wunder, ich sagte es schon. «Volkmar zerbröselte das Brot in seinen Fingern. Er spürte, daß sich bei den Brüdern die Stimmung gewandelt hatte. Es ist wie die Krisis nach einer Operation, dachte er. Der Körper wehrt sich — und die beiden wehren sich gegen die Erkenntnis ihrer Niederlage. So etwas kann zu Katastrophen führen, vor allem, wenn man so unmittelbar am Abgrund sitzt wie ich.