Er verabschiedete sich von allen und drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten.
«Auf Wiedersehen in Korsika!«sagte er glücklich.»Ihr kommt bestimmt bald nach! Das braucht eben alles seine Zeit. Einer muß ja der erste sein! Bis später, Kameraden! Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«
Im Lift, der nach unten in den Keller fuhr, nahm ihn ein Arzt in Empfang.
«Noch eine Untersuchung?«fragte der Elektriker aus Caserta.
«Nur eine Injektion gegen die Pocken!«Der junge Arzt lächelte freundlich.»Und dann.«
«Dann ab in die Ferne!«
«So ist es! Ab in die Ferne.«
Sie lachten beide laut, während der Lift nach unten sauste, in den Keller, aus dem es für ein junges, gesundes Herz nur eine Wiederkehr gab: in einem anderen Körper.
Kurz vor Beginn der Operation gab es noch eine unangenehme Verzögerung: Dr. Volkmar wollte plötzlich die Einverständnis-Erklärung der Angehörigen des Unfallopfers sehen.
Es gab nichts, was Dr. Soriano aus der Ruhe hätte bringen können oder was er, zum logischen Denken erzogen, nicht schon vorausgeahnt hätte. Auch Volkmars Einsichtnahme in die Hinterbliebenenerklärung war einkalkuliert worden. Es lagen, seit die furchtbare >Herzbank< bestand, immer ein paar Bescheinigungen blanko vor, in die man nur die Namen einzusetzen brauchte. Die zittrigen Unterschriften gramgebeugter Väter und Mütter nachzumachen, war eine Kleinigkeit, die Soriano zum Teil selbst besorgte.
«Da ist noch etwas anderes, Dr. Soriano«, sagte Dr. Nardo am Telefon. Basil Hodscha war auf die Operation bereits vorbereitet, der Elektriker aus Caserta hatte seine Injektion bekommen, war umgefallen und wurde jetzt für die Herzentnahme präpariert.»Dr. Volkmar will die Eltern selbst sprechen.«
«Sprechen? Genügt ihm nicht das Dokument?«
«Nein. Und ganz kritisch wird es, wenn er den Herzspender selbst untersuchen will. Dann sind wir gezwungen, einen Unfall zu konstruieren.«
«Hat Dr. Volkmar diesen Wunsch schon angedeutet?«
«Gott sei Dank noch nicht! Er verläßt sich auf das UntersuchungsTeam II. Aber es könnte noch kommen.«
«Ich liefere ihm die Eltern!«sagte Dr. Soriano kalt.»Wann will er sie sehen?«
«In einer Stunde.«
«Hat er das so ultimativ gesagt?«
«Nein. >Vor der Operation< — das waren seine Worte. Aber wir werden in etwa einer Stunde anfangen.«
«Es wird zu machen sein!«
Soriano legte auf. Dr. Nardo starrte den Hörer an, ehe er ihn langsam zurück auf die Gabel legte. Es wird zu machen sein. Bei Don Eugenio war alles möglich: ein neues Herz, ein Elternpaar, das das Herz des Sohnes verkaufte, ein Dokument, das auch rechtlich das Grauenhafte, was hier im Keller geschah, abdeckte.
Dr. Nardo setzte sich, in den Knien plötzlich weich geworden, und wischte sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn. Er hatte es sich in den Jahren der Zusammenarbeit mit Soriano abgewöhnt, Skrupel zu haben. Mit Skrupeln ein Rädchen im großen Getriebe der Mafia zu sein — da ergeht es einem wie zu weichem Material, das nach kurzer Zeit Abrieberscheinungen aufweist. Mit Skrupel Geld verdienen zu wollen, viel Geld, dabei kommen nur wenige auf ihre Kosten.»Der Moralist wird sich immer in die eigene Tasche pinkeln, um andere nicht zu beschmutzen«, hatte Soriano einmal gesagt.
In dieser Stunde erlebte der Bauer Pier-Luigi Alvio etwas sehr Verwunderliches, was er sich nicht erklären konnte, weil es eben zu ungewöhnlich war: Ein großes, sehr teures Auto hielt vor seinem aus Felssteinen gebauten, armseligen, abseits am Rand der Berge gelegenen Haus, und ein Mann in einem pelzgefütterten langen Mantel, eine Pelzkappe auf dem Kopf, stieg aus und schritt auf das Haus zu. Es war kalt an diesem Januartag, von den Bergen pfiff ein eisiger Wind, jeder war froh, wenn er am warmen Ofen hocken und in die prasselnden Holzscheite blicken konnte. Pier-Luigis Frau, die fromme Emma, saß am Fenster, sie hatte das Auto zuerst gesehen.»Besuch!«rief sie.
Pier-Luigi tippte sich an die Stirn. Die Alte wird auch immer wunderlicher, dachte er, schlurfte durch das Zimmer und blickte hinaus. Besuch! Bei uns! Aber dann sah er, daß tatsächlich ein Auto zwischen Schuppen und Haus gehalten hatte.
Der Mann im Pelz klopfte an die Tür und lächelte freundlich, als Pier-Luigi ihm öffnete. Benjamino Tartazzi lächelte immer — das war sein Trick, er gab sich immer offen und freundlich, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Gallezzo, der stets zurückhaltend, ja sogar etwas geckenhaft aufgetreten war. War man Gallezzo stets mit einer gewissen Ehrfurcht begegnet, so schenkte man Tartazzi volles Vertrauen, denn wer so entwaffnend lächeln kann, ist kein schlechter Mensch.
Auch Pier-Luigi und seine treue Frau Emma waren sofort von dem Besucher eingenommen, als dieser mit einem sonnigen Lächeln sagte:»Ich nehme an, dieses Jahr wird ein hartes Jahr für die Landwirtschaft. Solch ein extremes Wetter, verrückt! Schnee bis in die Täler, Glatteis auf den Straßen — und das auf Sizilien! Viele Bäume werden erfrieren, von den Menschen ganz zu schweigen. Da wäre es doch schön, wenn man 250.000 Lire nebenbei verdienen könnte.«
Tartazzi setzte sich, holte aus dem Pelzmantel eine einfache Papiertüte und schüttete einen Haufen Lire-Scheine auf den Tisch. PierLuigi Alvio betrachtete das Geld voller Ehrfurcht. Emma fragte diplomatisch:»Signore, wir sind arme Bauern, aber wir haben noch ein Faß mit gutem Wein. Darf ich Ihnen ein Glas bringen?«
Tartazzi sagte nicht nein, lächelte die braven Alten herzig an und wirbelte mit seinen Fingerspitzen die Geldscheine auf. Sie schwebten über den Tisch wie Federn.
Pier-Luigi nickte mehrmals.»Was kann ich für Sie tun?«fragte er mit belegter Stimme.»Signore, ich habe nichts zu verkaufen.«
«Können Sie schreiben?«Tartazzi rieb die Hände freudig aneinander, als Emma mit dem Wein kam. Er nahm einen Schluck, das Getränk war sauer und kratzte im Hals, aber er verdrehte die Augen und sagte begeistert.»Oh!«, was das Vertrauen der Alvios zu dem Gast noch erhöhte.
«Schreiben?«Pier-Luigi kratzte sich über den Nasenrücken.»Das geht. «Ist lange her, dachte er. Wann schreibt unsereiner schon? Und wozu? Seine Olivenbäume hatten noch nie gefragt:»Kannst du schreiben: >Ich bin eine Olive!<? Oder: >Du bist ein armer Hund, Pier-Lui-gi<!«Natürlich hatte man in der Schule schreiben gelernt, auch rechnen, und vor allem Religion, aber mit alldem konnte man hier oben in den Bergen, auf den armseligen Feldern nichts anfangen. Hier mußte man mit der Sonne kämpfen, mit dem Wind, den Steinen, dem Staub, der Trockenheit und, wie jetzt, mit der ungewohnten Kälte. Da halfen keine Kirchenlieder und Psalmen, aber auch kein Bleistift.
Tarzatti nahm noch einen Schluck von dem fürchterlichen Wein und schnalzte mit der Zunge.»O Madonna!«rief er.»Das ist ein Tropfen! Wie steht's mit dem Lesen?«
«Es geht beides«, antwortete Pier-Luigi zurückhaltend.»Warum?«
«Die 250.000 Lire bleiben hier auf dem Tisch, wenn ihr mitkommt und unterschreibt, daß euer Sohn Giulmielmo verunglückt ist.«
«Wir haben aber keinen Sohn«, unterbrach ihn Emma.»Leider, Signore.«»Für 250.000 Lire stellt euch einen Sohn vor!«Tartazzi lächelte die beiden alten Leute sonnig an.»Dieser arme Giulmielmo ist überfahren worden. Keine Hoffnung! Aber er kann noch etwas Großes tun: Er kann in einem Hospital anderen Menschen das Leben retten!«
«Giulmielmo?«
«Ja.«
«Obwohl er tot ist?«
«Ja.«
«Das verstehe ich nicht.«
«Es ist auch etwas kompliziert. Aber für 250.000 Lire sollte man nicht zu intensiv denken. «Tartazzi schichtete die Geldscheine aufeinander: ein kleiner, sehr verlockender Hügel auf einem wackeligen Holztisch.»Die Sache ist ganz einfach, wenn man sie einfach betrachtet: Ihr kommt mit in ein Krankenhaus, lernt dort einen berühmten Arzt kennen, fangt an zu weinen und zu klagen: >Unser armer, armer Giulmielmo! Unser einziger Sohn! O diese verfluchten Autos! Die Hölle verschlinge sie! Aber wir sind einverstanden, daß Giulmielmo noch im Tode Gutes tut — er hat immer Gutes getan, der gute Junge!< Und so weiter, versteht ihr?! Und dann unterschreibt ihr beide ein Stück Papier, auf dem steht, daß Giulmielmo nun dem Krankenhaus gehört.«