Dr. Volkmar sprang auf und starrte auf den Bildschirm. Seine Augen waren zusammengekniffen.»Ich gehe sofort hinüber und mische mit! Ich will hören, was er zu sagen hat! Und ich werde den Kollegen eine andere Wahrheit erzählen!«
Soriano winkte müde ab. Daß ein Mann wie er plötzlich resignierte und wie vergreist in der Ecke eines Sofas hockte, dokumentierte die trostlose Lage mehr als alle Worte.
«Spar dir das, Enrico!«sagte er. Er fiel wieder in das vertraute Du.»Was hat das noch für einen Sinn? Was erreichst du damit? Nichts! Dr. Zampieri wird dich auslachen und zu den anderen Ärzten sagen: >Da hört und seht ihr es! Der große Held, der nicht merkt, wie man ihn beschissen hat!< Und die lieben Kollegen werden mitlachen. Sie müssen es, keiner wird auf deiner Seite stehen. Disziplin und Gehorsam sind bei uns die Grundregeln — wer sie mißachtet, kann sich gleich in den nächsten Sarg legen. So ist das, Enrico. Du wirst das vielleicht nie begreifen.«
«Kaum! Gelesen habe ich viel darüber. Aber ich habe nur immer geglaubt, den Autoren sei die Phantasie durchgegangen.«
«Soviel Phantasie wie die Wirklichkeit kann kein Dichter haben. Erinnere dich an meine Worte: Es gibt bei uns nichts, was nicht möglich wäre.«
Dr. Volkmar blickte wieder auf den redenden Dr. Zampieri.»Wo kommt der Bursche eigentlich her?!«
«Er war chirurgischer Oberarzt in Messina.«
«Und plötzlich ist er hier?«
«Wir arbeiten schnell. «Das klang gallebitter.
«Und Dr. Nardo?«
Soriano tupfte wieder auf die Stirn.»Weg.«
«Tot?!«
«Ich weiß es nicht. Alle Verfügungsgewalt ist mir entzogen worden. Anordnungen trifft jetzt nur noch ein Gremium des Großen Rates. «Soriano zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm.»Da! Willst du mehr Beweise?!«
Dr. Zampieri schien erfahren zu haben, daß auch im Ärztekasino eine Fernsehkamera installiert war. Er blickte hinauf zu der Ecke, wo der Apparat hing, und somit, ohne es zu wissen, direkt auf Dr. Volkmar. Zampieri grinste unverschämt, er sagte etwas — aber da kein Mikrophon eingeschaltet war, erkannte man das nur an der Bewegung seiner Lippen. Die anderen Ärzte lachten, und dann zog Dr. Zampieri aus der Hosentasche einen kleinen Revolver und schoß, indem er mit der linken Hand noch einmal dem im Kasino ver-muteten Zuschauer zuwinkte, auf die Fernsehkamera.
Das Bild zerplatzte. Nur Dunkelheit und ein gleichförmiges Summen blieben zurück.
«Der neue Stil!«sagte Dr. Soriano dumpf.»Enrico, eure Flucht hat euch und mich vernichtet! Ist das jetzt klar?«
«Das wollen wir sehen!«Dr. Volkmar rannte zur Tür.»Vor Zam-pieris Revolver habe ich keine Angst. Er und euer Großer Rat brauchen mich! Das ist ein Trumpf, gegen den es keine Karte gibt!«
«Versuche es!«
Volkmar riß die Tür auf. Draußen im Flur standen vier elegant gekleidete schwarzhaarige Männer und rauchten. Zu den Maßanzügen paßten zwar Hemd, Krawatte und Schuhe, aber nicht die Maschinenpistole, die jeder über dem Rücken trug. Als Dr. Volkmar aus dem Zimmer stürzte, rutschten die Waffen durch eine schnelle Schulterdrehung sofort in die Hände. Die Zigaretten blieben in den Mundwinkeln hängen.
«Dottore«, sagte einer der Männer.»Die Luft in Ihrem schönen großen Zimmer ist bestimmt gesünder als hier draußen.«
«Ich muß zu meinen Patienten und zu den Ärzten!«schrie Volkmar.
«Wenn es nötig ist, wird Dr. Zampieri das befürworten.«
«Und wenn etwas mit den Patienten passiert, seid ihr schuld!«
«Es wird nichts passieren. Garantiert nicht! Bitte, Dottore, gehen Sie ins Zimmer zurück. «Die Stimme des Mannes wurde sogar weich.»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, im Gegenteil, ich muß Ihnen dankbar sein. Sie haben meine Mutter operiert. Im Altersheim, Dottore. Sie hatte einen riesengroßen Furunkel im Nacken. Erinnern Sie sich?«
Volkmar antwortete nicht. Er ging in das Zimmer zurück. Dr. Soriano zog die Schultern hoch.»Habe ich's dir nicht gesagt? Bei mir hattest du alle Freiheiten. Jetzt wird es nur noch Zwang geben.«
«Wenn sie Loretta etwas antun. «Volkmar ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen.»Nur einen Ritzer auf der Haut.«
«Nichts wirst du machen, gar nichts. Du kannst nichts machen!
Immer und immer wieder werden sie Loretta in den OP II rollen, vornarkotisiert. Und wenn du nicht operierst, wird Dr. Zampieri es tun, und Loretta. «Sein Kopf sank auf die Brust. Er war wieder nahe daran, aufzuheulen.
«Wo ist sie jetzt?«fragte Volkmar tonlos.
«Ich weiß es nicht. Giorgio und Jacobo haben sie fortgeführt. Diese Kreaturen! Neun Jahre lang habe ich die beiden ernährt — und jetzt tun sie so, als sei ich ein Fremder! Das ist die Wahrheit, Enrico! Der einzelne ist ein Nichts. - Nur die Organisation ist das Leben!«
«Weiß Zampieri, wo Loretta ist?«
«Möglich.«
Volkmar drückte die Knöpfe der Rundsprechanlage und wartete, bis alle roten Signallämpchen aufleuchteten.
«Dr. Zampieri!«sagte er mit harter Stimme.»Kommen Sie sofort zu mir! Auch wenn Sie meinen, Sie seien jetzt hier der große Zampano — ich sage Ihnen: Eine Null sind Sie! Ich traue Ihnen noch nicht einmal zu, einen Pickel auf einem Hintern zu behandeln!«
Er schaltete sich aus und lehnte sich zurück. Dr. Soriano zerknüllte den mit Blut getränkten Zellstoff und warf ihn neben das Ledersofa.
«Das hat gesessen!«meinte Volkmar ruhig.
«Du ahnungsloser Spinner!«antwortete Dr. Soriano. Es klang wie eine Kondolenz.
«Ich habe alle Zimmer eingeschaltet. Auch die Stationen, die Krankenzimmer und die reichen Anwärter auf ein neues Herz!«
«Du bist verrückt!«
«Nach diesem Rundspruch wird sich keiner mehr vor Zampieri auf den Tisch legen! Diese halbe Minute kostet die Mafia zig Millionen!«
«Zampieri wird dich tödlich hassen.«
«Das ist sein Privatvergnügen! Euch geht es um die Millionen Dollar, nicht um Zampieris Seelenzustand. Soll er doch hassen! Das klärt die Fronten! Schlagen wir noch mal zu!«
Soriano sprang auf, aber er kam zu spät.
«Enrico!«rief er.»Sei vernünftig! Denk an Loretta!«
«Nur an sie! Nur!«Volkmar hatte wieder alle Stationen angeschlossen.»An alle!«sagte er klar.»An alle noch wartenden und bereits operierten Patienten: Ich, Dr. Monteleone, werde nicht mehr operieren. Ich sehe mich außerstande, Ihre Behandlung fortzusetzen. An meiner Stelle wird Sie ab sofort der Nichtskönner Dr. Luciano Zampieri betreuen. Mein Beileid, meine Herren!«
Dr. Soriano lehnte sich stöhnend an die Wand.»Das ist dein Ende, Enrico! Und Loretta hast du auch geopfert. Wenn ich eine Pistole bei mir hätte, würde ich jetzt dich und mich erschießen!«
Auf dem Flur entstand Lärm, man hörte einen lauten Wortwechsel. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Dr. Zampieri stürzte ins Zimmer. Für einen Süditaliener war er ziemlich groß. Er trug die Haare kurz im sogenannten Militärschnitt. Sein breites Gesicht war gerötet. Die dunklen Augen sprühten vor kaum beherrschbarer Wut. Dr. Volkmar winkte ihm wie einem alten Bekannten zu.
«Los! Keine Hemmungen!«rief er, bevor Zampieri sprechen konnte.»Eine Kugel für Don Eugenio, eine für mich! Wir warten darauf. Wir gut Sie treffen können, haben Sie ja bewiesen. So eine harmlose Fernsehkamera! Hier haben Sie jetzt eine echte Aufgabe! Los, ziehen Sie Ihren Revolver, Sie Saukerl!«
«Das war Ihr letzter Streich!«Zampieri trat hinter sich die Tür zu und blieb schwer atmend stehen.»Ich habe in der Zentrale den Rundspruch totlegen lassen!«
«Von tot verstehen Sie allerhand, wie mir scheint.«
«Sie provozieren mich nicht! Sie nicht!«
«Ich weiß. Ihnen sind die Hände gebunden. Die Mafia braucht mich doch. Das ist das Schönste an der ganzen Sache. Hier kämpft ein Floh gegen einen Elefanten: Ich kann Sie beleidigen, Ihnen gegen das Schienbein treten, Sie ohrfeigen, in den Arsch treten, ich kann alles mit Ihnen anstellen, und Sie dürfen sich nicht wehren, Sie müssen es ertragen. Denn die Mafia braucht mich! Das habe ich in diesen Monaten gelernt.«