Dr. Volkmar ließ Don Giacomos Hals los und trat zurück. Sie haben alle recht, dachte er. Sein Herz schlug wie ein Eisenhammer. Es gibt kein Entrinnen mehr. Entweder Selbstopfer oder Handlanger einer Mord-Company. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
«Ich möchte das sehen!«sagte Volkmar.»Ich glaube das alles noch nicht!«
Er riß die Tür auf und betrat den Vorraum des OPs.
Es war wie immer. Man erwartete den Chef, ein Pfleger half ihm, die grüne OP-Kleidung anzuziehen, man hatte bereits das heiße Wasser aufgedreht und die Sterillösung zum Eintauchen der Hände nahe ans Becken geschoben. Daneben stand auf einem Rolltisch der Chrombehälter mit den sterilen Gummihandschuhen. Von der Decke strahlten die neuen Entkeimungsgeräte und töteten die letzten Bakterien ab.
Volkmar trat an die breite Glasscheibe und blickte in den OP.
Dr. Zampieri hatte bereits begonnen, den Thorax von Mr. Lyo-nel McHartrog zu öffnen. Das Team, von Volkmar bestens geschult, arbeitete schnell, lautlos, präzise. Zampieri, als Chef am Tisch, brauchte kaum etwas zu tun; er wurde von den anderen Ärzten zum Klemmenhalter degradiert. Die Schläuche zur Herz-Lungen-Maschine lagen bereit. Im Oszillographen zuckten die elektronischen Kurven. Ein müdes Herz. McHartrog hatte schon drei Infarkte hinter sich, ein großer Teil der Kranzgefäße war bereits tot und degeneriert. Wenn er nur in ein Auto stieg, keuchte er vor Anstrengung.
Im OP II waren zwei Tische aufgebaut. Die Körper lagen abgedeckt unter den grünen Tüchern. Vier Ärzte standen hier noch untätig herum und kontrollierten lediglich die Anästhesie. Ihr Einsatz, der Mord mit dem Skalpell, erfolgte später, wenn Zampieri — oder Dr. Volkmar — das Kommando gab. Dann wurde das gesunde Herz herausgenommen und herübergetragen.
Das Herz des jungen, kräftigen Bäckergesellen Pietro Foco aus Salerno. Oder das Herz Lorettas. Hierbei spielte es keine Rolle mehr, welche Werte der Verträglichkeitstest ergeben hatte. Es ging nur noch um das Töten, um die Rache der Mafia an einem Versager.
Dr. Volkmar preßte die Stirn gegen die Glaswand.»Ich will sie sehen!«sagte er tonlos.»Bedecken kann man jeden Körper.«
Einer der Ärzte telefonierte mit dem OP II. Dort trat ein Chirurg an den Tisch II und hob das Tuch von dem Kopf der Narkotisierten ab.
Lorettas lange, schwarze Haare, um den Kopf gewickelt wie ein Turban. Ihr herrliches, schmales Gesicht, jetzt bleich und durchsichtig wie Porzellan. Die Lippen verschwanden unter der Gummimanschette des eingeführten Tubus.
Sie ist es wirklich, durchfuhr es Volkmar. Und man hat sie bereits intubiert. Es war kein Bluff. Sie liegt da, um mit aller chirurgischen Kunst getötet zu werden.
Er trat vom Fenster zurück und nickte. Ein Pfleger stülpte ihm die Kappe über, ein anderer band ihm den Mundschutz um. Über Volkmars vorgestreckte Hände zog man die Gummihandschuhe. Der Arzt, der mit dem OP II telefoniert hatte, trat in den Lichtstrahl des elektrischen Auges. Die automatische OP-Tür glitt lautlos zur Seite. Der Geruch von Blut und Desinfektion drang in den Vorraum.
Mit vorgestreckten Händen betrat Dr. Volkmar den Operationssaal und trat an den Tisch heran. Die Ärzte unterbrachen die Operation nicht, sie nickten ihm nur zu. Es war ein freundschaftliches Nicken.»Guten Morgen, Chef. «Dr. Zampieri machte den Platz, der dem Chef zustand, für Dr. Volkmar frei und stellte sich hinter den
1. Assistenten.
«Haben Sie den Krach gehört?«fragte er.
«Nein! Wo?«antwortete Dr. Volkmar.
«Neben Ihnen! Mir ist ein Gebirge vom Herzen gefallen!«
«Atmung wird flacher!«meldete der Anästhesist am Kopf von McHartrog.»Puls flattert.«
Das zeigte auch der Oszillograph. Die Linien wurden chaotisch. Dr. Volkmar blickte in den eröffneten Brustkorb und betrachtete das geschädigte, müde, seiner Aufgabe nicht mehr gewachsene Herz.
«Alles fertig für extrakorporalen Kreislauf?«
«Fertig, Chef. «Das war die Meldung von der Herz-LungenMaschine.
«Oxygenator?«
«Alles okay, Chef!«
«Ich schließe in der Subclavia an. Ist genug Spenderblut da? Ich brauche mehr als sonst. Die Blutwerte sind miserabel. «Volkmar blickte auf die Laborliste, die ihm ein Pfleger vor die Augen hielt. Er sah die Ergebnisse erst jetzt.»Ich will soviel wie möglich austauschen.«
«Genug Blut vorhanden, Chef.«
«Dann los!«
Der zweite Teil der Operation begann. Das Anschließen an die Herz-Lungen-Maschine. Dr. Volkmar hob noch einmal den Kopf.»Wieso ist eigentlich genug Blut da?«
«Aufgrund der Laborwerte, Chef. Dr. Zampieri hat es angeordnet.«
Volkmar wandte den Kopf. Zampieri stand hinter ihm. Er schien glücklich zu sein, nicht mehr operieren zu müssen.
«Sie?«
«Auch ein blindes Schwein findet ab und zu eine Eichel. «Zampieri grinste unter seinem Mundschutz.»Ich habe meine Dissertation über Hämathologie geschrieben. «Er sah hinüber in den OP
II. Dr. Volkmar folgte seinem Blick. Die vier Chirurgen standen zwischen den beiden Tischen. Rechts oder links? Pietro Foco oder Loretta Soriano? Zampieri seufzte laut.
«Denken Sie an gar nichts!«sagte er rauh.
«Können Sie das?«fragte Volkmar zurück.
«Jetzt ja! Wir bekommen ein Stück Muskel und pflanzen ihn ein. Alles andere ist uninteressant. Vor allem: Blicken Sie nicht durch die Scheibe. Sie brauchen ja nicht zuzusehen. Ich bin auch bereit, für Sie zu winken, Dr. Volkmar.«
«Dann haben Sie bessere Nerven als ich.«
«Ich habe eine Frau und einen kleinen Sohn!«
«Irgendwie haben Sie recht, Zampieri. Wir brauchen eine Entschuldigung, die uns vor dem Selbstzerfall rettet. Aber was nutzt das in Wirklichkeit! Heute operiere ich den Menschen, der ich bis heute war, mit weg, werfe ihn in den Eimer, wie dieses nutzlos ge-wordene Herz. Ich werde nach dieser Operation nie mehr Ich sein. «Er überblickte das Operationsfeld. Die Assistenten hatten die Herz-Lungen-Maschine soweit angeschlossen, daß man mit dem extrakorporalen Kreislauf beginnen konnte. Die dritte Phase der Operation wurde eingeleitet.»Gleich sind wir Mitmörder, Zampieri!«
«Nein! Mitopfer!«
«Ich habe Sie gestern sehr beleidigt«, sagte Dr. Volkmar heiser. Ein Pfleger tupfte ihm den Schweiß vom Gesicht.»Ich weiß gar nicht mehr, mit was ich Sie in der Erregung beschimpft habe. Ich wußte ja nichts von Ihrer Frau und dem kleinen Franco. Und Sie benahmen sich wie ein Gangster im amerikanischen Film!«
«Ich wurde beobachtet, Dr. Volkmar. «Zampieri lachte mit einem weinerlichen Unterton.»Eine Art Eignungsprüfung. Ich habe nur an meine Frau und das Kind gedacht. Sie waren mir völlig gleichgültig. Aber jetzt.«
Dr. Volkmar blickte über den Instrumententisch. Es lag alles bereit: die Klemmen, die scharfe Schere, die Teflonstücke, die Gefäßnahtmaschine, die normalen Nadelhalter, das Nahtmaterial. Der Sauger zischte leise. Der Brustraum wurde von den letzten Blutresten befreit. Ein völlig reines Operationsfeld, in dem das ebenso blutleere, tote Herz liegen würde. Ein Klumpen, den man einfach herausschneiden konnte. Von drüben kam ja das neue, das gesunde, das junge, kräftige Herz. Das Herz von Pietro Foco, Bäcker aus Salerno. Ein Junge, der davon geträumt hatte, auf Korsika, in der Bäk-kerei der Fremdenlegion, Brote und Kuchen für die Kameraden bak-ken zu können. Das hatte man ihm im Werbebüro von Neapel fest versprochen.
Volkmar drückte das Kinn an und schloß die Augen. Der extrakorporale Kreislauf war hergestellt, das alte Herz von McHartrog war blutleer, das müde Schlagen erstarb. Auf dem Oszillographen erschien eine gerade Linie. Ein Mensch war tot und lebte dennoch. Und in zwei Stunden würde wieder ein Herz in seiner Brust klopfen. Ein Herz von dreiundzwanzig Jahren. Ein guter, eingefahrener Motor.