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«Wir gehen mit!«Alfredo starrte auf den Lautsprecher und wartete anscheinend auf einen Befehl des Don. Auch Oreto schien das zu spüren, denn es knackte, und seine ruhige Stimme füllte den Raum.

«Freie Fahrt für meine Freunde aus Sizilien!«sagte er.

«Verstanden, Don Adriano. «Alfredo winkte mit der MPi. Als seien sie Gefangene, die abgeführt werden, verließen sie alle das Bürogebäude und gingen hinüber zu dem großen Wagen, den sich Gal-lezzo geliehen hatte. In Türnischen und hinter anderen geparkten Autos sah er Köpfe auftauchen.

«Es klappt bei euch!«sagte Gallezzo anerkennend.»Wieviel seid ihr?«

«Genug, um den Carabinieri den Krieg erklären zu können. «Alfredo wartete, bis die vier ehrenwerten Männer im Wagen saßen. Dann hob er die Hand.»Viel Glück weiterhin!«

Mit einem Satz sprang der Wagen vorwärts und fuhr sehr schnell aus dem Fruchthof hinaus.

«Hat einer eine Zigarette?«fragte Alfredo. Er warf die MPi am Riemen hinter seinen Rücken.»Ich muß einen anderen Geruch haben. Dieses Parfüm ist ja zum Kotzen!«

Kapitel 2

Bis zum Abend gab es bereits drei Tote. Aber das wußte keiner, denn niemand sprach darüber. Die Toten entstammten einer Gesellschaftsklasse, in der Sterben zum täglichen Risiko gehört. Zwar hinterließen sie Frauen und Kinder, Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, die mit echter Ergriffenheit trauerten, weinten, sich die Haare rauften und schrille Schreie des Schmerzes ausstießen — aber das geschah alles hinter verschlossenen Türen und zugeklappten Fensterläden, gewissermaßen im engsten Familienkreis. Befreundete Ärzte stellten Totenscheine aus, die Herzversagen bestätigten. Das war noch nicht einmal gelogen, denn wer einen Schuß in den Kopf oder ins Herz bekommt, dessen Herz versagt.

Erschreckend waren nur die Begleitumstände der plötzlichen Todesfälle. Da waren vier sehr vornehme Herren aufgetreten, hatten einige Fragen gestellt und dann den Interviewten mit freundlichem Nicken ins Jenseits befördert. Man konnte gar nichts dagegen tun — und selbst, als man Don Adriano anrief, aufgescheucht von diesen Methoden, erfuhr man nur:»Haltet das Maul! Um der Maria willen, seid still! Kein Aufsehen! Wir kümmern uns darum. «Und dabei blieb es. Don Adriano gab nur die Erklärung heraus, daß er mit solchen Vorfällen nichts zu tun habe.

«Diese parfümierten Schwulen!«schrie Alfredo, als Oreto den kleinen Rat< in seinem Büro versammelte, um die Lage zu besprechen.»Wir hätten sie doch liquidieren sollen!«

«Sollen wir uns mit Don Eugenio anlegen?«fragte Oreto mit zerknittertem Gesicht.»Wir wollen zufrieden sein, wenn wir in ein paar Tagen wieder unsere schöne sardische Ruhe haben! Die Freunde in Sizilien haben ihre eigene Moral.«

Am späten Abend erreichte Gallezzo mit seinen Kumpanen den kleinen Ort Sorgono am Fuße des Gennargentu-Massivs. Ein Hinweis hatte sie dorthin gebracht: In der Bank von Oristano hatte jemand einhundert Deutsche Mark in Lire gewechselt, ein Mann, der sonst weder Lire, geschweige denn Deutsche Mark besaß. Man hätte auch nie darüber gesprochen, wenn nicht der Kassierer der Bank mit Don Adriano bekannt gewesen wäre. Denn dieser brave Mann übte nicht nur das biedere Bankgeschäft aus, er kontrollierte auch noch die drei Bordelle der Stadt, natürlich nicht auf eigene Rechnung. Die Gelder buchte er auf ein Konto, das Oreto gehörte. Sein Name war die Nummer 5 auf der Liste der zehn Namen, die Don Adriano gegeben hatte.

«Die hundert Mark haben mich gewundert«, sagte der Kassierer.»Meist kam er mit >gefundenen< Euroschecks. Wir haben sie stillschweigend eingelöst. Man ist doch ein guter Freund! Ist ein bedauernswerter Kerl, der Luigi. Die ganze Familie weg. Vendetta, Sie verstehen. Wenn er jetzt wirklich den deutschen Arzt entführt haben sollte — na, das ist eben eine neue Art zu arbeiten. Jeder modernisiert sein Unternehmen, nicht wahr? Aber ich glaube es nicht. In das Geschäft muß Luigi erst noch hineinwachsen.«

«Ist er allein?«fragte Gallezzo freundlich.

«Nein. Sie sind zu dritt. Luigi, Ernesto und Anna. Geschwister. Die letzten Überlebenden von.«

«Schon gut!«Gallezzo winkte ab.»Wo finden wir sie?«

«Fragen Sie in Sorgono nach Luigi. Sie leben irgendwo in den Bergen.«

So kamen die Abgesandten des Doktors Soriano in das Bergnest Sorgono. Daß der Bankkassierer am Leben blieb, hatte er nur seinem Beruf zu verdanken: Er stand hinter einer Panzerglasscheibe, außerdem war die Kassenhalle der Bank voll Kundschaft, und vor der Tür stand ein Carabiniere. Das aber war rein zufällig. Immerhin sah Gallezzo ein, daß man diese Spur nicht auslöschen konnte.

In Sorgono gab es einen Supermarkt im kleinen: Vom Nagel bis zum offenen Rotwein, von der Eisenfeile bis zur gut ausgetrockneten Salami fand man alles in den verstaubten Regalen und Schubladen, was ein Mensch in dieser Einsamkeit braucht. Sogar ein Stapel blecherner Nachttöpfe grüßte den Eintretenden, aber sie waren Ladenhüter, eine Fehlspekulation von Ferruccio Stracia, dem Besitzer des Ladens. Seine Kundschaft lud Exkremente nicht in blechernen Töpfen ab. Die waren ihnen einfach zu schade dafür. Um so mehr freute Stracia sein Umsatz an Wein. Er hatte drei Holzfässer und verkaufte nur halbliterweise. Auf zwei Bänken vor Tischen mit Kunststoffplatten saß man gemütlich neben den Weinfässern. Diese Ecke in Stracias Lokal ersetzte Fernsehen und Radio; hier liefen alle neuen Meldungen zusammen.

Hier saß auch Luigi und gönnte sich ein Glas Wein. Er hatte die einhundert DM eingewechselt, hatte Speck, Fleisch und Butter gekauft, einen Sack voll Tomaten und zwei Ballonflaschen mit Wein. Anna hatte ihm auf einer langen Liste aufgeschrieben, was er noch alles holen sollte, denn der Gast mußte standesgemäß leben können. Luigi beschloß, erst seinen Wein zu trinken und dann Annas

Liste mit Stracia durchzugehen. Er war sicher, daß der alles im Laden hatte, was man brauchte.

Es war gegen halb neun abends, als ein kleines, etwa siebenjähriges Mädchen in Stracias Laden kam und Luigi zuwinkte.»Du sollst 'rauskommen!«sagte es mit seiner hellen Kinderstimme.»Eine Überraschung!«

Luigi sah Stracia fragend an. Der hob die Schultern.

«Was ist los?«fragte Luigi laut. Das Mädchen trippelte zur Tür zurück und lachte verschämt.

«Eine Überraschung.«

«Verrückt!«Luigi stellte sein Glas auf den Tisch, faßte in die Tasche und überreichte Stracia fast hoheitsvoll Annas Zettel.»Stell das schon mal zusammen, Ferruccio«, sagte er.»Was gibt es hier für Überraschungen? Oder habt ihr jetzt eine Hure im Dorf?«

Stracia lachte laut, überflog den Zettel und wedelte mit ihm durch die Luft.»Und wer bezahlt?«

«Ich, du Trottel!«Luigi lachte zurück.»Warum soll ich nicht auch einmal Glück haben?«

Er verließ den >Supermarkt<, sah sich in der Dunkelheit fragend um und erhielt einen krachenden Schlag auf den Hinterkopf. Lautlos kippte Luigi um, zwei Männer schleiften ihn seitwärts zu dem klapprigen Jeep, und Gallezzo gab dem kleinen Mädchen hundert Lire. Es starrte den Geldschein entgeistert an.

«Du hast uns nicht gesehen«, sagte Gallezzo milde. Kinder zu töten, widerstrebte ihm. Er hatte, wie alle Italiener, ein großes Herz für Kinder und konnte mit den Kleinen von Dr. Sorianos Schwester stundenlang im Park der Villa am Meer spielen. Als es einmal nicht zu umgehen war und bei einer Brandstiftung — sie war die Warnung der >Gesellschaft< an einen aufsässigen Kameraden — auch drei kleine Kinder in den Flammen umkamen, hatte Gallezzo einen Tag lang geweint und mußte von Dr. Nardo ärztlich betreut werden.

Mit dem Jeep fuhren sie Luigi aus Sorgono heraus, hielten an einem Gebirgsbach und steckten Luigis Kopf ins kalte Wasser. Er kam schnell zu sich, wollte um sich schlagen und treten, aber drei Männer hielten ihn fest, und der vierte — es war Gallezzo — stach ihm zur besseren Verständigung ein Messer in den Unterarm.