«Sir«, sagte er zu Dr. Volkmar, als sie allein auf der Dachterrasse standen und aufs Meer hinausblickten.»Ich habe mich bemüht und glaube, erfolgreich gewesen zu sein. Ich stamme aus der Grafschaft Wigtown, aus Glenluce. Wer kennt schon Glenluce?! Aber noch unbekannter ist Ballantrae, an der Küste gelegen, Irland gegenüber. In Ballantrae wäre man glücklich, einen Arzt zu haben, Sir. Sogar ein schönes altes Landhaus, direkt am Meer gelegen, wäre zum Bezug bereit. Sie hätten zwar wenig zu tun, die Leute dort sind sehr gesund, aber gerade in dieser Gegend könnten Sie auch das Vieh mitbehandeln. Daran gewöhnt man sich, Sir. Auf jeden Fall hätten Sie Ruhe, keiner fragt Sie nach Ihrer Vergangenheit, Sie hätten eine Men-ge echter Freunde; es wäre ein Leben unter einem weiten Himmel, vor einem ewig donnernden Meer. Ein Land, so urwüchsig, als sei es gerade erst erschaffen worden.«
«Worthlow, Sie reden ja wie ein Lyriker!«sagte Volkmar ernst.
«Ich liebe dieses Land, Sir. Wenn Sie sich entschließen könnten, dort zu leben — mit mir, wenn ich Ihnen genehm bin. An der Küste von Ballantrae könnte man alles vergessen.«
«Und wie sollen wir jemals von Palermo nach Ballantrae kommen?«
«Mit der Yacht nach Tunis. Von Tunis mit dem Flugzeug nach Marseille. Von Marseille nach London. Selbst wenn man uns auf diesem Weg verfolgen würde — ab London gibt es keine Spuren mehr. Sie sind dann zum zweitenmal gestorben. Zuerst als Dr. Volkmar, dann als Dr. Monteleone. In Ballantrae werden Sie Dr. James Selby heißen. Der Paß, völlig einwandfrei und bereits mit Ihrem Foto versehen, liegt bei einer Cousine von mir in Glasgow.«
«Sie sind ein alter, verschlagener Fuchs, Worthlow!«Dr. Volkmar blickte auf das unter der Sonne glänzende Meer. Die Yacht düm-pelte an dem langen Holzsteg. Zwei Matrosen schrubbten das Oberdeck. Ihre nackten Oberkörper glänzten vom Schweiß.»Das klingt alles verlockend einfach.«
«Es ist einfach, Sir.«
«Dr. James Selby. - Ich möchte einmal wieder Dr. Heinz Volkmar sein!«
«Das wird nie mehr möglich sein, Sir. Auch wenn die deutsche Ärzteschaft außergewöhnliche Umstände tolerieren sollte, auch wenn sie anerkennt, daß Sie unter dauerndem Todeszwang standen, auch wenn man Sie voll rehabilitiert: hinter Ihrem Rücken wird man Sie doch immer den >Mafia-Arzt< nennen. Dieses Brandzeichen nimmt Ihnen keiner mehr weg. Sir, Sie kennen doch Ihre Kollegen!«
«Und wie ich sie kenne, Worthlow! Aber ich weiche diesem Kampf nicht aus.«
«Und Mrs. Loretta? Sie können zurückschlagen. Aber wer schützt sie, wenn die Damen der Gesellschaft sie das >Gangster-töchterchen< nennen? Sie wird nur noch auf glühenden Kohlen lau-fen können, Sir, ich kenne diese Damen. Sie entwickeln die Vernichtungsinstinkte eines Raubtieres!«Worthlow trat neben Dr. Volkmar an die Brüstung der Terrasse.»Mrs. Loretta wird daran zerbrechen, ich weiß es. Die Liebe zu Ihnen und der gepflegte Haß der Umwelt — wer ist schon so stark, das durchzuhalten? In Ballantrae kümmert sich niemand darum. Dort sind Sie Dr. James Selby, den alle verehren, weil er Darmverstopfungen bei Menschen genausogut beseitigt wie bei Kühen. «Worthlow schielte zu Volkmar hinauf, der einen Kopf größer war als er.»Oder haben Sie den Ehrgeiz, Sir, woanders auch wieder Herzen zu transplantieren?«
«Es war meine große Lebensaufgabe, Worthlow. Ich bin in der Medizin der Zukunft einen großen Schritt weitergekommen. Wir können das Tor zum 21. Jahrhundert aufstoßen!«
«Sie nicht mehr, Sir. Vergebung, daß ich das ausspreche. Oder glauben Sie, man läßt Sie noch einmal offiziell an einen OP-Tisch? Sie können nur noch Ruhe finden, wenn Sie am Strand der Irischen See als Dr. Selby Möwen füttern oder im Hochland, in den herrlich klaren Gebirgsflüssen, Lachse fangen. Das ist doch auch ein wunderbares Leben.«
«Ich überlege es mir, Worthlow«, sagte Volkmar leise.»Ich werde mit Loretta sprechen. Und wenn wir es tun — dann sofort!«
«Ich bin bereit, Sir.«
Die folgenden Wochen machten die Ausführung des Plans unmöglich. Es mußten zwei Herzen ausgetauscht werden, und nach jeder dieser fürchterlichen Operationen war Volkmar nervlich am Ende. Wiederum brauchte er Tage, um den Schock zu überwinden, und von Operation zu Operation wurde er anfälliger.
Dr. Soriano bemerkte das sehr wohl, und er gab sich alle Mühe, Volkmar abzulenken, mit Zerstreuungen und Geschenken aufzuheitern.
Ein nachträgliches Geschenk zur Hochzeit betrachtete Dr. Soriano als ganz besonderen Beweis seiner Zuneigung zu Dr. Volkmar:
Nach der Rückkehr von der kurzen Hochzeitsreise erschien er zum Frühstück unter den Säulenkolonnaden der großen Terrasse mit zwei
Jagdgewehren.
«Ich habe euch, meine lieben Kinder, versprochen«, sagte er fast feierlich,»mich langsam aus dem aktiven Leben der >Gesellschaft< zurückzuziehen. Euer Glück ist vollkommen, und das allein ist für mich noch wichtig. Ihr sollt heute die Möglichkeit haben, einen entscheidenden Schritt zu tun.«
«Bitte, verlang nicht, daß ich dich erschieße, Eugenio — «, sagte Volkmar sarkastisch.»Dieses Angebot hättest du mir vor anderthalb Jahren machen sollen.«
«Kommt mit!«Dr. Soriano ging voraus, durchquerte den riesigen Park und blieb vor dem künstlichen See stehen. Die Krokodile lagen faul auf ihren verschlammten Inseln in der Sonne, hornige Riesenechsen, gut genährt und abgrundtief häßlich. Sie blinzelten den Menschen am Ufer zu und rührten sich nicht.
Soriano übergab sowohl Volkmar wie Loretta ein Gewehr.»Sie sind geladen mit einer Panzermunition, die alles durchschlägt. Am besten ist ein Schuß ins Auge.«
Loretta war die erste, die das Gewehr an sich riß und an ihre Brust drückte. Ihre großen schwarzen Augen funkelten.
«Ich habe sie immer gehaßt!«sagte sie gepreßt.»Immer! Von Kind an! Danke, Papa.«
«Und du, Enrico?«
Volkmar nahm zögernd das Spezialgewehr und starrte auf die Riesenechsen. Sorianos Friedhof, dachte er mit Schaudern über dem Rücken. In diesen Rachen war alles verschwunden, was keine Spuren hinterlassen durfte. Hier und bei den Löwen.
Soriano bewies wieder seine Fähigkeit, Gedanken zu ahnen.»Die Löwen nehmen wir anschließend«, sagte er.»Betrachtet das als ein letztes Hochzeitsgeschenk. Ich schließe damit die Ära Don Eugenio ab.«
«Wenn das möglich ist, Papa, wird meine Hand nicht zittern!«Loretta hob den Kolben an die Wange und zielte. Im Fadenkreuz des Zielfernrohrs erschien groß ein Krokodilauge. Kalt, mordglänzend, von gepanzerten Wülsten umrahmt.
Loretta drückte ab. Noch im Aufbellen des Schusses schleuderte sich das Krokodil hoch, stand auf seinem langen hornigen Schwanz fast senkrecht und stürzte dann in den Schlamm.
«Hervorragend!«sagte Soriano mit rauher Stimme.»Wie sie schießen kann! Ab und zu, Enrico, erkenne ich in meiner Tochter Eigenschaften von mir. Nicht alles hat sie von ihrer Mutter geerbt.«
Es dauerte eine halbe Stunde, bis alle Reptilien in dem künstlichen See erschossen waren. Auch Soriano schoß mit.er nahm Volkmar das Gewehr ab, als er sah, daß er mehrmals daneben schoß.
«Ich kann mich an das Töten nicht gewöhnen!«sagte Volkmar heiser und wandte sich ab.»Ich wollte immer nur Leben erhalten.«
Er ging allein zurück zum Haus, setzte sich unter die Säulenhalle und ließ sich von Worthlow einen Longdrink mixen. Vom See krachten weiter die Schüsse.
«Wir bauen ab, Sir, nicht wahr?«fragte der Butler.
«Bei den Krokodilen und Löwen.«
«Vor zwei Jahren wäre so etwas undenkbar gewesen.«
«Aber ich muß weiter operieren!«
«Sir, die Küste von Ballantrae wartet auf Dr. James Selby.«
«Vielleicht in drei Wochen, Worthlow. Ich habe Soriano gesagt, daß ich unbedingt Ruhe brauche, neue Nervenkraft. Ich kann mir ein Zittern der Hände nicht erlauben. Und ich zittere, sobald ich an den OP-Tisch trete.«