Was in den nächsten Stunden in Palermo geschah, erfuhr die Welt nur bruchstückweise durch Rundfunk und Fernsehen, durch Presse und amtliche Kommuniques. Der Generalstaatsanwalt von Rom, im Namen der Regierung handelnd, verhängte eine strenge Zensur über alle Nachrichten aus Sizilien. Nur, was die Staatsanwaltschaft für wichtig hielt, wurde für die Öffentlichkeit freigegeben.
Es war sehr wenig. Denn was man vorfand, war so grauenhaft, daß es der breiten Masse nicht zuzumuten war.
Mit generalstabsmäßiger Präzision rollte das >Kommando Klinik< ab: Zuerst wurde Dr. Soriano in seiner Anwaltskanzlei unter Arrest gestellt. Alle Telefone wurden besetzt. Die Klienten wurden nach Hause geschickt. Eine Gruppe von dreißig Mafia-Spezialisten übernahm die beiden Granatwerfer und fuhr hinaus nach Camporea-le. Auch dort unterbrach man alle Leitungen des >Kinderheims< und verhaftete Signore Tonio Albengo, den Bürgermeister von Cam-poreale, für den einst der Besuch des Kardinals bei der Einweihung der Höhepunkt seines Lebens gewesen war. Auch Vincente Lucca, der Carabiniere von Camporeale, wurde inhaftiert, weil es einfach nicht glaubhaft war, daß er nicht gewußt haben sollte, was dort oben in dem wunderschönen Palast aus Glas, Marmor und Stein wirklich geschah.
Die >Eroberung< der unterirdischen Klinik erfolgte — obwohl es moralisch angreifbar war — mit Hilfe des sterbenden Leone Tortal-la. Ein Krankenwagen aus Palermo fuhr vor, und zwei Polizisten in weißen Sanitäterkitteln trabten mit der Trage ins Heim. Dort starrte man sie entgeistert an. Eine Schwester — die Oberschwester, wie sich herausstellte — erklärte wortreich, das hier sei ein Kinderheim, aber kein Krankenhaus.
«Einen Arzt, bitte!«sagte einer der Sanitäter.»Ihr habt doch einen Arzt hier, nicht wahr?«
Die Beamten aus Rom hatten Glück. Nach einigen Telefonaten innerhalb des Kinderheimes erschien ein langer, fast kahlköpfiger Arzt und stellte sich als Dr. Zampieri vor. Ein Blick auf den Bankier Tortalla sagte ihm, daß hier höchste Eile geboten war.
«Er wollte unbedingt hierhin!«sagte der Sanitäter, der in Wirklichkeit der Polizei-Oberleutnant Luigi Dellanove war.»Von Rom! Man habe ihn hier schon einmal operiert! Leone Tortalla heißt er. Nun sind wir hier, und das ist ein Kinderheim! Was nun?!«
Zampieri war der Name Tortalla ein Begriff. Der Bankier aus Mailand mit dem seltenen Eiweiß! Jetzt in einem desolaten Zustand. Und der Chef war verreist.
«Kommen Sie mit!«sagte Zampieri ohne zu zögern. Er lief voraus zu dem versteckten Lift hinter der Tür Magazin. Die Sanitäter mit dem sterbenden Tortalla folgten ihm im Laufschritt. Erst als sie durch die Tür verschwunden waren, kamen auch die anderen Beamten in die große Halle, nicht in Verkleidung, sondern mit umgehängten Maschinenpistolen. Auf einem kleinen Hügel des Kinderspielplatzes, von dem man das Gelände gut übersehen konnte, waren die beiden Granatwerfer in Stellung gegangen. Die Oberschwester sank in einen der ledernen Besuchersessel in der Halle und begann laut zu beten.
Ein Überfall! Ein Überfall!
Es dauerte lange, bis sie überzeugt war, daß die wilden Kerle Polizisten waren.
Im Keller II übernahm ein Pfleger die Trage mit Tortalla, setzte sie auf einen Rolluntersatz und lief mit ihm zur Intensivstation. Dr. Zampieri wollte hinterher, aber dann blickte er in die Läufe von zwei Pistolen, die ihm die beiden Sanitäter entgegenhielten.
«Oberleutnant Dellanove!«sagte der eine.
«Sergeant Patti!«sagte der andere.
«Vom Sondereinsatz Rom! Dr. Zampieri, Sie sind vorläufig festgenommen. Bitte, machen Sie keine Schwierigkeiten. Zeigen Sie uns die Klinik. Und keine Tricks! Die Telefone nach draußen sind abgestellt, das Haus ist von dreißig Mann besetzt, auf Flüchtende wird sofort geschossen.«
Dr. Zampieri war bleich geworden. Er hatte immer wieder ein Ende seiner Karriere als Mafia-Chirurg herbeigesehnt — aber so hatte er es sich nicht vorgestellt. Er hatte davon geträumt, mit seiner Frau und seinem Söhnchen Franco bald wieder in Messina im eigenen Garten spielen zu können.
«Ich gehe voraus — «, sagte Zampieri müde.»Ich zeige Ihnen alles. Aber wir alle sind nur Handlanger. Erpreßte Werkzeuge. Die Verantwortlichen sitzen nicht im Klinikkeller, sondern woanders. Sie wissen, was ich meine.«
Oberleutnant Dellanove atmete schnaufend durch die Nase. Erst jetzt wurde ihm klar, wo er hineingestoßen hatte. Das war eine Aktion, die im Rollverfahren ganz Sizilien auf den Kopf stellen würde.
«Das ist nicht wahr.«, sagte er tonlos.
«Und wie wahr das ist!«Dr. Zampieri machte eine ausgreifende Armbewegung.»Das beste Herz-Zentrum der Welt: die Mafia-Klinik! — Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Während Dr. Zampieri alle Türen öffnete und die Beamten aus Rom fassungslos das unterirdische Klinikreich durchstreiften, starb im OP I der Bankier Leone Tortalla. Man hatte ihm in einer Notoperation noch einmal den Brustkorb geöffnet, das Exsudat abgesaugt, Antibiotikaspülungen vorgenommen — es war umsonst, weil auch das Herz begann, sich abzustoßen. Ein neues Herz aber gab es nicht mehr. Nie mehr.
Oberleutnant Dellanoves Stimme zitterte, als er nach drei Stunden auf einer freigegebenen Leitung mit dem Generalstaatsanwalt in der Anwaltspraxis von Dr. Soriano telefonierte. Dr. Zampieri hatte auch die >Herzbank< geöffnet, wo die menschlichen Schlachttiere auf ihren Abtransport nach Korsika, zur Fremdenlegion, warteten. Es war ein Anblick, der auch die abgebrühtesten Polizisten des Sondereinsatzes blaß werden ließ.
«Das darf nie bekannt werden«, hatte Dellanove gesagt.»Nie! Das muß totgeschwiegen werden! Das kann keiner verkraften. So etwas darf ein Mensch einfach nicht getan haben. Das hat es nie gegeben!«
Der Generalstaatsanwalt hörte schweigend zu, was Dellanove ihm aus Camporeale berichtete. Dann legte er langsam den Hörer zurück und blickte Dr. Soriano an, der zwischen zwei Polizeioffizieren in Zivil in einem der tiefen Ledersessel saß.
«Das war Camporeale, Eugenio«, sagte der Generalstaatsanwalt.»Wir haben alles in der Hand.«
Soriano nickte. Seine Ruhe, die Eleganz seiner Bewegungen, der klare Blick seiner Augen — das bewies jedem, der ihn kannte, daß dieser Mann mit seinem Leben abgeschlossen hatte.
«Ich dachte es mir«, antwortete er.»Nun bist du glücklich, was? Nach sechsundzwanzig Jahren kannst du zurückschlagen. Und das gründlich!«
«Vierundzwanzig Jahre.«
«Sechsundzwanzig. Loretta ist jetzt fünfundzwanzig.«
«Wir haben die Herzbank gefunden. Eugenio, bist du überhaupt noch ein Mensch?! Wer hat die Herzen verpflanzt?«
«Dr. Monteleone.«
«Er war nicht in Camporeale. Auch nicht in deinem Haus in So-lunto.«
«Er ist weg. In Sicherheit.«
«Und Loretta?«
«Ebenfalls.«
«Wer hat sie gewarnt?«
«Es war reiner Zufall. Das macht mich so leicht und fröhlich.«
«Fröhlich? Mein Gott! Du hast vierundvierzig junge Männer als Schlachttiere eingesperrt und bist fröhlich?«
«Dr. Monteleone hat nur unter größtem Druck gearbeitet. Unter Lebensgefahr. Hätte er nicht transplantiert, würde man Loretta das Herz herausgeschnitten haben. Was sollte er also tun? Auch ich war nachher nur ein Opfer.«
«Aha. Der Große Rat!«Der Generalstaatsanwalt setzte sich auf die Schreibtischkante.»Wir haben die Liste der Mitglieder in deinem Haus in Solunto gefunden. Die lieben Dons werden zur Zeit aus ihren Villen geholt. Das ist ein vernichtender Schlag gegen euch, Eugenio.«
«Ich weiß es, Alberto. Und es wird ein Weltprozeß! Dein Name wird eines Tages über dem Tor des Justizpalastes in Stein gemeißelt werden.«
«Ich glaube nicht. Was hier geschehen ist, kann man nicht an die Öffentlichkeit bringen! Darüber sind wir uns jetzt schon im klaren, obwohl wir noch nicht einmal den ganzen Umfang des Verbrechens kennen. Für Anklagen auf anderen Gebieten haben wir Stoff genug. Deine Mafia-Klinik, Eugenio, wird wohl ein Staatsgeheimnis werden. «Der Generalstaatsanwalt griff in die Tasche und legte Soriano eine Pistole auf die Sessellehne.»Über Geheimnisse kann man nicht reden und auch keine Urteile sprechen. Eugenio, wir gehen jetzt fünf Minuten vor die Tür.«