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Zwischen ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann von geschmeidiger Gestalt, dessen Haar und Bart üppig eingeölt waren. Er trug blaue, weite Hosen und über dem Wams einen Militärmantel. Seine Augen waren ständig in Bewegung, und er beobachtete Cranston und Athelstan, als wären sie Feinde. Der Coroner stellte ihm barsch eine Frage, aber der Bursche starrte ihn nur wortlos an, öffnete den Mund und deutete mit dem Finger. Athelstan wandte den Blick mitleidig ab, als er das schwarze Loch sah, wo die Zunge des Mannes hätte sitzen müssen. »Rastani ist stumm«, sagte Philippa mit überraschend dunkler, heiserer Stimme. »Er war Moslem, hat sich aber zu unserem Glauben bekehrt. Er ist…« Sie biß sich auf die Lippe. »Er war der Diener meines Vaters.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie klammerte sich an den Arm ihres Verlobten, obwohl der junge Mann weniger sicher auf den Beinen war als sie.

Als alle einander vorgestellt waren, rief Colebrooke nach weiteren Schemeln, und als er den gierigen Blick sah, den Sir John auf den Becher des jungen Mannes warf, ließ er auch noch heiße Milch mit Rotwein bringen. Cranston und Athelstan setzten sich in die Mitte. Sir John zeigte keine Hemmungen; er warf den Mantel zurück, streckte seine stämmigen Beine von sich und genoß die Wärme des Feuers. Seinen Becher hatte er in einem Zug geleert, ließ sich nachschenken und schlürfte geräuschvoll. Er schmatzte und ließ seinen Blick über die Runde wandern, als seien alle seine engsten Busenfreunde. Athelstan sprach ein stummes Gebet, während er sein Schreibtablett auf den Knien ordnete: Mochte der Herr dafür sorgen, daß Cranston nüchtern und wach blieb. Geoffrey kicherte, und die beiden Ritter starrten den Coroner ungläubig an.

»Ihr seid der Coroner des Königs?« fragte Sir Fulke.

»Ja, das ist er«, schaltete Athelstan sich ein. »Und Sir John ist nicht immer so, wie er zu sein scheint.«

Cranston schmatzte wieder.

»Nein, nein, das bin ich nicht«, knurrte er. »Und ich schätze, das gilt auch für jeden anderen hier im Raum. Es gibt einen nützlichen Spruch, den Ihr stets bedenken solltet: Ein jeder aus dem Weibe geborene Mann ist dreierlei: Was er zu sein scheint, was er zu sein behauptet, und« - strahlend blickte er in die Runde - »was er in Wahrheit ist.« Lüstern grinste er Philippa an. »Das gleiche gilt auch für das schönere Geschlecht.« Plötzlich fiel ihm Maude ein, und der Gedanke ernüchterte ihn schneller als ein Schwall kalten Wassers. »Und das gleiche«, fuhr er unwirsch fort, »gilt für den Mörder des Konstablers Sir Ralph Whitton.«

»Ihr verdächtigt einen der Anwesenden?« fragte Sir Fulke; jegliche Gleichgültigkeit war jetzt aus seinem Gesicht verschwunden.

»Ja, das tue ich«, knurrte Cranston.

»Das ist eine Beleidigung!« platzte der Kaplan heraus. »Lord Coroner, Ihr seid betrunken. Ihr kommt hier hereingeschwankt, Ihr kennt uns nicht…«

Athelstan legte dem Coroner eine Hand auf den Arm. Er spürte, daß Sir John in gefährlicher Stimmung war, und er sah auch, daß die beiden Hospitaliterritter ihre Mäntel geöffnet, die Dolche in ihren Gürteln freigelegt hatten. Cranston nahm die Warnung an.

»Ich beschuldige niemanden«, sagte er sanft. »Aber es erweist sich meist, daß der Mord - wie die Barmherzigkeit - zu Hause wurzelt.«

»Wir haben es mit drei Problemen zu tun«, warf Athelstan diplomatisch ein. »Wer hat Sir Ralph getötet, warum und wie?« Der Lieutenant schnalzte unhöflich. Cranston beugte sich vor. »Ihr wollt etwas sagen, Sir?«

»Ja, allerdings. Sir Ralph könnte von einem Rebellen aus London ermordet worden sein, von einem Bauern aus den vielen hundert Dörfern der Umgebung oder von einem getarnten Attentäter, der geschickt wurde, um die grausige Tat zu begehen.«

Cranston nickte ihm lächelnd zu.

»Vielleicht«, antwortete er liebenswürdig. »Aber ich werde später auf Eure Theorie zurückkommen. Einstweilen wird keiner von Euch den Tower verlassen.« Er schaute sich in der düsteren Halle um. »Wenn ich den Leichnam gesehen habe, will ich Euch alle noch einmal sprechen, aber in angenehmerer Umgebung.«

Der Lieutenant nickte. »In der St.-John’s-Kapelle im White Tower«, schlug er vor. »Dort ist es warm, sicher und einigermaßen ungestört.«

»Gut. Gut.« Cranston grinste falsch in die Runde. »Dort werde ich Euch treffen. Jetzt wünsche ich Sir Ralphs Leiche zu begutachten.«

»In der Nordbastion«, antwortete Colebrooke, stand abrupt auf und ging ihnen voran aus der Halle.

Sir John folgte ihm schwankend wie eine Galeone, während Athelstan hastig Feder, Tintenhorn und Pergament einpackte. Der Ordensbruder war zufrieden: Er hatte Namen und einen ersten Eindruck, und Cranston hatte seinen üblichen Lieblingstrick angewandt und jedermann befremdet. Der Coroner war gerissen wie ein Fuchs.

»Wenn du Verdächtige grob behandelst«, hatte er einmal erklärt, »werden sie wahrscheinlich weniger Zeit mit Lügen verschwenden. Und, wie du weißt, Bruder, die meisten Mörder sind Lügner.«

Colebrooke wartete am Fuß der Treppe zur Großen Halle und führte sie schweigend am White Tower vorbei, der sich schimmernd aus dem tiefen Schnee erhob. Jeder Absatz, jedes Sims und jedes Fensterbrett waren von Eis und Schnee bedeckt. Athelstan blieb stehen und schaute hoch.

»Prachtvoll!« murmelte er. »Wie groß sind doch die Werke des Menschen.«

»Und wie schrecklich«, fügte Cranston hinzu.

Beide standen für ein paar Augenblicke da und bewunderten die kahlen, weißen Mauern des gewaltigen Turmes. Sie wollten gerade weitergehen, als unter einer Außentreppe am Fuße der Festung eine Tür aufflog. Ein phantastisches Geschöpf mit einem Buckel und dichtem weißen Haar stand plötzlich für einen Augenblick wie angefroren vor ihnen. Sein Gesicht war bleich, und sein Körper war von zahllosen bunten und schmutzigen Lumpen bedeckt; die Füße steckten in viel zu großen Stiefeln. Endlich kam er wie ein Hund auf allen vieren auf sie zu. Schneewolken stoben rechts und links in die Höhe. Der Lieutenant wandte sich fluchend ab.

»Willkommen im Tower!« kreischte das Geschöpf. »Willkommen in meinem Königreich! Willkommen im Tal der Schatten des Todes!«

Athelstan schaute hinunter in das verzerrte fahle Gesicht und die milchigen Augen des Albinos, der vor ihnen kauerte. »Guten Morgen, Sir«, entgegnete er. »Und wer seid Ihr?«

»Rothand. Rothand«, brummelte der Bursche. Seine bläulichen Lippen öffneten sich, und schmutziggelbe Zähne klapperten vor Kälte. »Mein Name ist Rothand.«

»Na, du bist mir ein komischer Halunke, Rothand«, rief Cranston.

Die irren Augen betrachteten den Coroner verschlagen. »Wahnsinn ist, was Wahnsinn treibt«, murmelte Rothand. »Doppelt so verrückt wie einige und halb so verrückt wie andere.« Er holte die Hand hinter dem Rücken hervor und schüttelte einen Stock, an dem eine schmutzige, aufgeblasene Schweinsblase festgebunden war. »Also, meine Schätzchen, wollt Ihr mit Rothand spielen?«

»Verpiß dich, Rothand«, schnarrte der Lieutenant und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu.

Der Albino funkelte Colebrooke nur an.

»Der alte Rothand weiß so manches«, sagte er. »Der alte Rothand ist nicht so blöd, wie er aussieht.« Schmierige Klauenfinger streckten sich Athelstan entgegen. »Rothand kann dein Freund sein. Er hat seinen Preis.«

Athelstan schnürte seinen Beutel auf und legte dem Verrückten zwei Münzen in die Hand. »Da«, sagte er leise. »Jetzt kannst du Sir Johns Freund sein und der meine.«