Выбрать главу

Colebrooke ging zum Fenster, schloß es vernehmlich und schob den hölzernen Riegel vor. Dann zog er den Dolch, schob ihn in den Spalt zwischen den beiden Läden und hob behutsam den Riegel aus seiner Halterung. Er drückte die Läden auf, drehte sich um und schaute Cranston lächelnd an.

»Es geht also, Lord Coroner«, bemerkte er trocken. »Der Mörder durchquert dann auf leisen Sohlen die Kammer. Einem Mann die Kehle durchzuschneiden dauert nicht lange, vor allem, wenn er viel getrunken hat.«

Athelstan dachte über die Worte des Lieutenants nach. Plausibel war es. Er und Cranston wußten von den Nachtschatten, einer Räuberbande, die im Schutze der Dunkelheit in ein Haus eindringen und es ausplündern konnte, ohne daß Bürger, Frauen, Kinder und sogar Hunde aufwachten. Warum sollte es hier anders sein? Athelstan musterte das Gemach aufmerksam: dicke Granitmauem, ein steinernes Gewölbe, kalte Steinplatten unter der Binsenstreu.

»Nein, Bruder.« Colebrooke schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Es gibt keinen Geheimgang. Nur zwei Wege führen in diese Kammer - durch das Fenster oder durch die Tür. Das untere Stockwerk ist bewacht; wir sind an den Wächtern vorbeigekommen. Und der Zugang zum oberen Stockwerk ist durch eingestürztes Gemäuer verschüttet.«

»Hat man irgendwo Blutspuren gefunden?« fragte Athelstan. Er sah, daß der Lieutenant einen spöttischen Seitenblick auf die blutige Leiche warf. »Nein«, fuhr er ärgerlich fort, »ich meine, anderswo. Am Fenster. Bei der Tür. Als der Mörder seine Tat vollbracht hatte, muß sein Messer oder sein Schwert doch voller Blut gewesen sein.«

Colebrooke schüttelte den Kopf. »Überzeugt Euch selbst, Bruder. Ich habe nichts gefunden.«

Athelstan warf Cranston einen mutlosen Blick zu; dieser saß inzwischen wie ein nasser Sack auf seinem Schemel und hatte die Augen halb geschlossen nach dem vielen Wein und den heftigen Anstrengungen in der Morgenkälte. Der Ordensbruder sah sich gründlich um. Bettzeug und Leichnam waren von getrocknetem Blutgetränkt, aber weder am Fenster noch in den Binsen oder in der Nähe der Tür fand er eine Spur davon. »Ist sonst etwas verändert worden?«

Colebrooke schüttelte den Kopf. Cranston regte sich plötzlich. »Warum ist Sir Ralph hierhergezogen?« fragte er unvermittelt. »Das ist doch nicht sein gewohntes Gemach.«

»Er glaubte, er wäre hier sicher. Die nördliche Bastion ist eine der unzugänglichsten in der ganzen Festung. Eigentlich wohnte der Konstabler in den Königlichen Gemächern im White Tower.«

»Und hier war er auch sicher«, schloß Athelstan, »bis der Wassergraben zufror.«

»Ja«, sagte Colebrooke. »Daran hat niemand gedacht, weder ich noch sonst jemand.«

»Hätte man einen Attentäter nicht sehen müssen?« fragte Cranston.

»Das bezweifle ich, Sir John. Nachts ist der Tower in Dunkelheit gehüllt. Auf der Nordbastion standen keine Wachen, und die auf der Mauer dürften die meiste Zeit damit verbracht haben, sich zu wärmen.«

Cranstons Augen wurden schmal. »Dann wollen wir jetzt, bevor wir mit den anderen sprechen, die Abfolge der Ereignisse klären.«

»Sir Ralph aß in der Großen Halle zu Abend und trank viel. Geoffrey Parchmeiner und die beiden Wachen eskortierten ihn hierher. Letztere durchsuchten die Kammer, den Korridor und den Raum darunter. Alles war in Ordnung.«

»Und dann?«

»Sir Ralph schloß die Tür hinter sich ab. Das haben die Wachen draußen gehört. Sie begleiteten Geoffrey aus dem Gang, verschlossen die Tür am anderen Ende und begannen ihre Wache. Sie waren die ganze Nacht auf ihrem Posten und haben nichts Außergewöhnliches bemerkt. Ich bei meinen üblichen nächtlichen Rundgängen genausowenig.«

Athelstan hob die Hand. »Diese Schlüsselgeschichte …?«

»Sir Ralph hatte einen Schlüssel zu seiner Kammer. Den zweiten hatten die Wachen an einem Schlüsselbund unten.«

»Und für die Tür am Ende des Ganges?«

»Auch hier hatten Sir Ralph und die Wachen je einen Schlüssel. Ihr werdet sie gleich sehen, wenn Ihr hinuntergeht; sie hängen an Haken an der Wand.«

»Weiter, Lieutenant - was geschah dann?«

»Gleich nach dem Morgengebet kam Geoffrey Parchmeiner…«

Der Lieutenant sah Athelstan verschlagen an. »Ihr habt ihn kennengelernt? Den geliebten zukünftigen Schwiegersohn? Nun, er kam, um Sir Ralph zu wecken.«

»Wieso Geoffrey?«

»Sir Ralph hat ihm vertraut.«

»Brachte er etwas zu essen oder zu trinken mit?«

»Nein. Er wollte, aber wegen des kalten Wetters wollte Sir Ralph, daß Geoffrey ihm die Aufwartung machen und ihn wecken sollte. Dann wollten sie den Tag planen und mit den anderen in der Großen Halle frühstücken.«

»Weiter«, befahl Cranston und stampfte mit den Füßen, um sie zu wärmen.

»Nun, die Wachen führten Geoffrey die Stiege herauf, ließen ihn auf den Korridor und schlossen hinter ihm wieder ab. Sie hörten, wie er den Gang entlangging, an die Kammertür klopfte und rief, aber Sir Ralph rührte sich nicht. Nach einer Weile kam Geoffrey zurück und erklärte, Sir Ralph sei nicht wachzukriegen.« Colebrooke brach ab, kratzte sich am Kopf und schloß die Augen, um sich zu konzentrieren. »Geoffrey nahm den Schlüssel zu Sir Ralphs Kammer vom Haken, besann sich dann aber und holte mich. Ich war in der Großen Halle, kam sofort, nahm den Schlüsselbund an mich und schloß die Tür auf.« Der Lieutenant deutete auf das Bett. »Wir fanden Sir Ralph, wie Ihr ihn hier seht.«

»Und das Fenster stand offen?« fragte Cranston.

»Ja.«

»Seit wann ist der Festungsgraben zugefroren?« erkundigte sich Athelstan.

»Seit ungefähr drei Tagen.« Colebrooke rieb sich heftig die Hände. »Sir John, wir müssen doch sicher nicht hierbleiben«, sagte er flehentlich. »Es gibt wärmere Orte für solche Fragen.« Cranston stand auf und streckte sich.

»Gleich«, brummte er. »Seit wann war Sir Ralph Konstabler?«

»Oh, seit ungefähr vier Jahren.«

»Mochtet Ihr ihn?«

»Nein. Er war ein Pedant, verlangte fanatisch Disziplin - nur von seiner Tochter und ihrem Liebhaber nicht.«

Cranston nickte und wandte sich noch einmal dem Leichnam zu. »Ich nehme an«, knurrte er, »von der Mordwaffe gibt es keine Spur. Vielleicht könntest du noch einmal nachsehen, Athelstan.«

Der Bruder stöhnte, durchsuchte aber mit Colebrookes Hilfe noch einmal den Raum. Sie stocherten in der Binsenstreu und siebten die kalte Asche im Kamin.

»Nichts«, erklärte Colebrooke dann. »Hier könnte man noch nicht einmal eine Stecknadel verstecken.«

Athelstan ging zu Sir Ralphs Schwertgurt und zog die Klinge heraus. »Auch hier keine Blutflecken«, sagte er. »Kein Tröpfchen, kein Fleckchen. Sir John, wir sollten jetzt gehen.« Draußen untersuchten sie noch einen Flecken auf dem Boden des Ganges, aber es war nur Öl. Auf der Hälfte der Treppe hielt Athelstan plötzlich den Lieutenant fest. »Die beiden Wachposten«, flüsterte er. »Sind das dieselben wie letzte Nacht?«

»Ja. Söldner, die Sir Ralph schon gedient haben, als er noch zum Haushalt Seiner Gnaden des Regenten gehörte.«

»Sind sie loyal?«

Colebrooke verzog das Gesicht. »Das nehme ich an. Sie haben einen Eid auf ihn geleistet. Und was noch wichtiger ist: Sir Ralph hatte ihren Sold verdoppelt. Sie hatten von seinem Tod nichts zu gewinnen, sondern sehr viel zu verlieren.«

»Habt Ihr etwas zu gewinnen?« fragte Cranston mit schwerer Zunge.

Colebrookes Hand fuhr zum Griff seines Dolches. »Sir John, diese Frage gefällt mir nicht. Ich gebe zu, daß ich Sir Ralph nicht leiden konnte - obwohl Seine Gnaden der Regent ihn schätzte.«

»Wolltet Ihr Whittons Posten?«

»Natürlich. Ich halte mich für den besseren Mann.«

»Aber der Regent war anderer Ansicht?«

»John von Gaunt hat sich darüber nicht mit mir beraten«, bemerkte Colebrooke säuerlich. »Ich hoffe allerdings, daß er mich jetzt zu Whittons Nachfolger ernennt.«